Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 3/2021: Forschung

Krachende Börsenkurse und platzende Blasen

Tübinger Forschungsteam untersucht historische Erfahrungen im Umgang mit Börsencrashs  

„Jump!“ steht auf den Transparenten, die wütende Demonstranten in der New Yorker Wall Street emporrecken. Aus den Fenstern ihrer Bürotürme sollten sie springen, die Börsenmakler, Spekulanten und Banker. Die Wellen der moralischen Empörung schlugen hoch, damals im September 2008, nachdem die Investment-Bank „Lehman Brothers“ pleite gegangen war, die Börsenkurse weltweit abstürzten und Schockwellen die globale Wirtschaft erzittern ließen. Die dramatischen Ereignisse vor zwölf Jahren sind nur die jüngsten Beispiele in einer langen Reihe von Finanzmarktkrisen: Rasant fallende Kurse, platzende Spekulationsblasen, Panikverkäufe und Börsencrashs gehören seit Jahrhunderten zur Geschichte der kapitalistischen Wirtschaft.  

Wie erlebten die Menschen früherer Epochen solche Spekulationszyklen? Welche Vorstellungen vom Wertpapierhandel hatten sie? Wie bewältigten sie eigene Spekulationsverluste und welche Lehren zogen sie für die Zukunft? Diese Fragen erforscht Daniel Menning, Privatdozent am Seminar für Neuere Geschichte der Universität Tübingen, im Rahmen des Sonderforschungsbereichs „Bedrohte Ordnungen“. Als Quellen dienen ihm und den Doktorandinnen und Doktoranden in seinem Team zeitgenössische Prospekte von Aktiengesellschaften, Geschäftsbücher, Briefwechsel zwischen Spekulanten, Zeitungsberichte, Börsenratgeber, Regierungsakten und diplomatische Korrespondenzen. 

Ihre Forschungen zur Geschichte des Börsenfiebers setzen in der Zeit um 1720 ein. Damals erlebte Europa die erste große Welle von Aktienspekulationen mit anschließenden Crashs. Die Zentren des Aktienhandels waren zu dieser Zeit Paris, London und Amsterdam, aber auch Menschen in Hamburg oder Nancy beteiligten sich. Die Spekulationen zielten auf märchenhafte Gewinne in Kolonien und durch Aktienkursanstiege. In Frankreich erzeugte der Run auf solche Papiere eine „Mississippi-Blase“, in England führten ähnliche Ereignisse kurz darauf zu einer „Südseeblase“. Beide platzten, bescherten vielen Investoren – darunter dem Physiker Isaac Newton – hohe Verluste und führten zu Rezessionen. Deutschland, das neben England und Frankreich einen der Schwerpunkte des Forschungsprojekts bildet, wurde in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts zum ersten Mal mit voller Wucht vom Spekulationsrausch erfasst. Treiber war zunächst der Handel mit Staatsschulden, dann folgte wenig später der Eisenbahnbau. Im Dezember 1835 verkehrte zwischen Nürnberg und Fürth die erste deutsche Dampflok. Bald darauf spekulierten immer mehr Menschen mit den Aktien der sich jetzt vielerorts gründenden Eisenbahngesellschaften. 

Die Begeisterung für die neuen Gewinnmöglichkeiten steigerte sich in ein regelrechtes „Eisenbahnaktien-Fieber“, das eine Spekulationsblase hervorbrachte, die schließlich 1844 mit lautem Knall platzte. „An diesem Beispiel kann man gut sehen, dass jede Blase auf ihre Art historisch einzigartig ist und sich nicht einfach auf eine zeitlose Gier reduzieren lässt. Eine Blase ist immer auch Ausfluss technischer oder gesellschaftlicher Innovationen“, sagt Daniel Menning. Es waren nicht nur die anfangs enorm hohen Kursgewinne, die die Aktieneuphorie befeuerten, sondern auch die Begeisterung für das neuartige Verkehrsmittel Eisenbahn. Von ihm versprachen sich viele Menschen eine glänzende Zukunft: Wohlstand für alle, ein Zusammenrücken der Nationen und Frieden für die Welt. Doch auch mit dem „Actienwesen“, mit dem viele Bürger erstmals Bekanntschaft machten, verbanden sich soziale Utopien. Man stellte sich die Aktiengesellschaft als eine demokratische Einrichtung vor, an der alle Gesellschaftsschichten teilhaben konnten, erhoffte sich vom Aktienhandel nicht nur wirtschaftlichen Aufschwung, sondern auch die Beseitigung sozialer Ungleichheit.

„In dieser Deutung des Börsengeschehens spiegeln sich die Zeitumstände: Die Menschen spürten, dass die ständische Ordnung sich aufzulösen begann, und sahen in den Aktiengesellschaften zukunftsträchtige gesellschaftliche Modelle. So folgen Spekulationen immer ihrer eigenen historischen Logik, irrational erscheinen sie meistens erst in der Rückschau“, erläutert Daniel Menning. Zugleich gingen die hochfliegenden Hoffnungen, die viele Menschen in die neue Unternehmensform setzten, mit für uns eigenartigen Vorstellungen über ihre Funktionsweise einher. Man betrachtete Aktien wie Waren oder Rohstoffe und beachtete nicht, dass ihre Anzahl und ihr Kurs das Renditeversprechen des dahinter stehenden Unternehmens ausdrückten. Auch die Vorstellung fest verzinslicher Aktien erscheint uns heute sonderbar. Doch die Menschen entwarfen, so wie wir heute,  Bilder einer Zukunft, die sie nicht kennen konnten. Die Enttäuschungen, die viele Kleinanleger Anfang der 2000er-Jahre mit den neuen Internetunternehmen erlebten, zeigen, dass Börsenhoffnungen weiter existieren und zugleich das Wissen über die Mechanismen und Risiken von Aktien immer noch begrenzt ist. Gibt es trotz allem so etwas wie eine historische Lernkurve? Daniel Menning ist skeptisch: „Jede Blase ist auf ihre Weise neuartig und entzieht sich meistens den Lehren, die man ja immer nur aus der Vergangenheit ziehen kann. Deshalb bezweifle ich, dass es langfristige Lerneffekte gibt. Besser sieht es bei der Bewältigung der Folgen aus. Und zugleich können wir aus den Blasen der Vergangenheit viel über Zukunftshoffnungen von Menschen lernen.“  

Wolfgang Krischke