Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 4/2021: Forschung
Modell für deutsche Universitätsklinika: 20 Jahre Hertie-Institut für klinische Hirnforschung
KI als Perspektive für die neurologische Forschung der Zukunft
Das Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) wurde vor 20 Jahren gegründet. Es bildet gemeinsam mit der Neurologischen Universitätsklinik das Tübinger „Zentrum für Neurologie". Thomas Gasser, Vorsitzender des Vorstands des Hertie-Instituts, berichtet im Interview über die Arbeit des HIH und über Zukunftspläne.
Wie kam es 2001 zur Gründung des Hertie-Instituts für klinische Hirnforschung?
Die Idee und Initiative zur Gründung des HIH ging von Professor Johannes Dichgans aus, dem damaligen Leiter der Neurologie und späteren Gründungsdirektor des HIH. Die Tübinger Neurologie hatte zu dieser Zeit eine ganz klassische Struktur, mit einem ärztlichen Direktor und mehreren Oberärzten. Johannes Dichgans war gleichzeitig als Vizepräsident der DFG maßgeblich an der Gestaltung der Wissenschaftsstrukturen in den Universitätsklinika beteiligt. Seine Erkenntnis war: In der heutigen Hochschulmedizin kann das traditionelle hierarchische System so nicht mehr funktionieren. Ein Chef kann nicht gleichzeitig der beste Wissenschaftler, der beste Kliniker, der beste Organisator, der beste Geldbeschaffer etc. sein. Prof. Dichgans konnte schließlich die Hertie-Stiftung für seine Idee gewinnen: Die klinische Hirnforschung und die Patientenbehandlung in der Klinik sollen nicht mehr in der klassischen hierarchischen Struktur erfolgen. Stattdessen wollte Dichgans ein Department-System etablieren, in dem die Abteilungen gemeinschaftlich zusammenarbeiten. Ein System, in dem die Wissenschaft und die Krankenversorgung nach wissenschaftlicher und klinischer Kompetenz der jeweiligen Abteilungsleiter untereinander geteilt und beide dadurch auch verbessert werden. Letztlich ein Glücksfall für beide Seiten – die Hertie-Stiftung und die Tübinger Hirnforschung. Das Hertie-Institut startete 2001 mit drei Departments, heute sind es sechs.
Was sind die wichtigsten Meilensteine seit der Gründung des HIH?
Die Department-Struktur des HIH hat sich, entgegen aller Skepsis, etabliert und dient heute als Modell für viele andere Institute an deutschen Universitätsklinika, nicht nur in der Neurologie, wenn auch die konkrete Ausgestaltung an den verschiedenen Standorten unterschiedlich ist.
Der Wissenschaftsrat hat 2015 das HIH und das Zentrum für Neurologie evaluiert und sehr gut bewertet, quasi der „Ritterschlag“ für das HIH. Direkt im Anschluss haben wir uns zusammengesetzt und das „Zukunftskonzept HIH 2030“ geschrieben.
Das Land Baden-Württemberg möchte die bisherige jährliche Grundförderung der Hertie-Stiftung für das HIH in die Landesförderung übernehmen. Falls diese Absichtserklärung tatsächlich umgesetzt wird, will die Hertie-Stiftung ihre Förderung in der bisherigen Höhe aufrechterhalten – für neue Projekte sowie weitere Professuren, Lehrstühle und Arbeitsgruppen.
Welche Schwerpunkte stehen aktuell im Fokus der Arbeit des HIH?
Aus Sicht der Patientenversorgung stehen bei uns Epilepsien, Gehirntumore, Parkinson, Schlaganfälle sowie die Schlaganfall-Akutbehandlung und die Rehabilitation im Mittelpunkt.
Gleichzeitig bilden auch genetische – insbesondere die seltenen – Erkrankungen einen wichtigen Forschungsbereich am HIH. Tatsächlich gibt es in der Summe sehr viele genetische Erkrankungen, auch wenn die einzelnen Erkrankungen sehr selten sind. In unserem Zukunftskonzept HIH 2030 haben wir uns die Entwicklung individualisierter Therapien für Patienten vorgenommen: Wir wollen künftig nicht vorwiegend die Symptome einer Krankheit behandeln, sondern zunächst nach den molekularen Ursachen der Erkrankung suchen. Diese sind nämlich bei den meisten Erkrankungen sehr heterogen, auch wenn sie vom Krankheitsbild sehr ähnlich wirken.
Auch die Neurotechnologie spielt am HIH eine wichtige Rolle, Stichwort neuronale Stimulation. Bei Parkinson-Erkrankungen setzen wir beispielsweise bereits erfolgreich die tiefe Hirnstimulation ein. Die neuronale Stimulation kann aber auch die Rehabilitation bei Schlaganfall-Patienten unterstützen. Zukünftig werden wir noch häufiger den Einsatz von ähnlichen technischen Methoden für verschiedene Erkrankungen sehen.
Der Bereich, der die Neurologie – das HIH eingeschlossen – und die gesamte Medizin in den nächsten Jahren am stärksten beeinflussen und nachhaltig verändern wird, ist der Bereich neuer Informationstechnologien, KI und Big Data.
Wie wichtig ist das Thema Prävention in der Neurologie?
Wir wissen: Wenn eine Erkrankung des Hirns klinisch sichtbar wird, dann ist sie sehr häufig nicht mehr vollständig heilbar. Die Strukturen des Gehirns sind hochkomplex – wenn hier etwas kaputt geht, ist das in der Regel irreparabel, denn das Gehirn hat eine ganz schlechte Regenerationsfähigkeit.
Gleichzeitig ist bekannt, dass viele der bekannten Hirnerkrankungen sehr lange asymptomatisch ablaufen, bevor die ersten Symptome auftreten. Eine Studie hier am Hertie-Institut hat festgestellt, dass man die ersten Veränderungen, die auf eine beginnende Alzheimer-Erkrankung hinweisen, schon 15 bis 20 Jahre vor der Erkrankung finden kann. Deswegen ist Prävention ein ganz wichtiger Bereich für die Forschung am HIH, dieser Bereich ist auch Teil unseres Zukunftskonzepts HIH 2030. Denn ohne Prävention sehen wir die Patientinnen und Patienten in der Regel erst, wenn Symptome auftreten, also die Krankheit sich möglicherweise schon 20 Jahre entwickelt hat.
Deswegen freuen wir uns sehr, dass die Hertie-Stiftung hier in Tübingen ein weiteres Hertie-Institut, das „Hertie-Institut für KI in den Neurowissenschaften“, gründen möchte. Ziel wird sein: Wie kommen wir von der Therapie der bestehenden Erkrankungen durch Methoden der KI dahin, dass sich das Auftreten solcher Krankheiten schon im Vorfeld verhindern lässt? Das neue Hertie-Institut ist als Komplement zum bestehenden Institut gedacht. Es würde hervorragend zur Tübinger Infrastruktur mit Cyber Valley und Cyber Valley Health passen.
Bei dem neuen Institut soll es vielmehr um Gesundheitsforschung gehen, und nicht um Krankheitsforschung: Was kann ich tun, um den Gesundheitszustand meines Gehirns – und des Rests meines Körpers – so lange wie möglich zu erhalten?
Aktuell wird der Gründungsvertrag für das neue Hertie-Institut ausgearbeitet, einen entsprechenden Vorstandsbeschluss der Hertie-Stiftung gibt es bereits.
Ihr Spezialgebiet ist die Erforschung der Parkinson-Krankheit: Wie hat sich die Behandlung von Parkinson in den letzten 20 Jahren verändert?
In der Therapie von Parkinson war die tiefe Hirnstimulation vor 20 Jahren eine absolute Ausnahme, heute ist sie ein Routine-Eingriff: Wir haben in Tübingen durchschnittlich 40 bis 50 entsprechende Implantationen pro Jahr. Diese Therapie heilt zwar nicht die Krankheit, aber bringt große Erleichterungen, insbesondere bei Patientinnen und Patienten im fortgeschrittenen Stadium. Und es gibt bei dieser Behandlungsmethode noch ein großes Potential für weitere Verbesserungen, beispielweise im Bereich der Stimulationsparameter und Steueraggregate.
Bislang mussten Patienten zur Einstellung der tiefen Hirnstimulation extra nach Tübingen kommen und an ein Gerät angeschlossen werden. Jetzt ist in Tübingen zum ersten Mal diese Einstellung bei einem Patienten online erfolgt. Diese Methode ist gerade in der Entwicklung, eine große Erleichterung für die Patientinnen und Patienten. Sie läuft über sichere Internetverbindungen und lässt sich besser in den Alltag der Patientinnen und Patienten integrieren und verbessert dadurch auch die Steuerung der Therapie.
Auf dem Gebiet der Genetik und der Erforschung der molekularen Ursachen der Parkinson-Erkrankung gab es ebenfalls bedeutende Fortschritte: Wir haben bereits erste Therapie-Studien, in denen nicht der Parkinson an sich behandelt wird, sondern stattdessen die molekularen Defekte, die zum Ausbruch von Parkinson führen. Jede Parkinson-Erkrankung sieht anders aus und hat unterschiedliche molekulare Ursachen. Unsere Hoffnung: Therapien, die nicht nur die Symptome lindern, sondern den Verlauf insgesamt verbessern.
Ein konkretes Beispiel: Viele Parkinson-Patienten werden nach 10 bis 12 Jahren dement oder sind zumindest kognitiv eingeschränkt. Gerade bei den Patientinnen und Patienten, die bereits eine motorische Einschränkung haben, ist es für uns ein Ziel, eine kognitive Störung bzw. Demenz zu verhindern oder zumindest ihre Entwicklung zu verlangsamen. Das lässt sich mit genetischen Methoden auch in einer späten Phase der Erkrankung immer besser verhindern.
Werden sich die Tübinger Neurowissenschaften erneut für ein Exzellenzcluster bewerben?
Für die Neurowissenschaften in Tübingen haben wir mit dem Tübingen Neuro Campus bereits eine Dachstruktur gegründet – gemeinsam mit dem Universitätsklinikum, der Universität, dem CIN sowie dem Cluster Machine Learning und den Tübinger Max-Planck-Instituten. In diesem Rahmen diskutieren wir aktuell einige Ideen für ein künftiges neurowissenschaftliches Exzellenzcluster in Tübingen. Voraussichtlich im nächsten Jahr werden wir entscheiden, welche dieser Ideen die größten Erfolgsaussichten für die nächste Runde der Exzellenzstrategie hat – mit der wollen wir dann gemeinsam 2025 antreten.
Das Interview führte Maximilian von Platen.