Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 1/2022: Studium und Lehre
Chapter Germany: eine Ausstellung zeigt die Alltagserfahrungen Tübinger Studierender aus China
Masterstudierende präsentieren Ergebnisse eines Studienprojekts im Linden-Museum Stuttgart
„Goethe hat geschrieben: ‚Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen‘. - Und ich meine, das gilt ebenso für die Kultur“. Mit diesen Worten unterstrich Dr. Hailong Jiao, chinesischer Konsul für Kultur und Bildung in Frankfurt/Main, die Wichtigkeit des gesellschaftlich-kulturellen Austausches anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „Chapter Germany 德国篇章. Alltagserfahrungen Tübinger Studierender aus China“.
Für diese Ausstellung haben zwölf Masterstudierende des Ludwig-Uhlands-Instituts (LUI) für Empirische Kulturwissenschaft in einem dreisemestrigen Studienprojekt chinesische Studierende in ihrem Tübinger Alltag begleitet. Bei Interviews, gemeinsamen Kochabenden und Ausflügen haben sich so Freundschaften und für die Studienprojektgruppe Partnerschaften für eine gemeinsame Forschung entwickelt. Tübingen steht dabei stellvertretend für alle deutschen Universitäten: Hier sind Studierende aus China inzwischen längst die größte ausländische Studierendengruppe: „Auch in Tübingen bilden die 490 chinesischen Studierenden unter den im Studienjahr 2021 knapp 4.000 ausländischen Studierenden die größte Gruppe“, betont Projektleiter Professor Dr. Reinhard Johler vom LUI. Abseits von Imagebroschüren oder der Webseiten der Universität sei diese große Gruppe von Studierenden und ihr Alltag in Tübingen – und in Deutschland generell – aber bislang kaum wahrgenommen oder betrachtet worden, so Johler.
Die Aspekte, die die Ausstellung widerspiegelt, sind vielfältig: Vom Ankommen in einem fremden Land, vom Studieren an der Universität Tübingen, vom Spaghetti kochen in der Wohnheimküche, von mitgebrachten Erwartungen, neu geschlossenen Freundschaften und Zukunftsträumen berichten die insgesamt 26 Tübinger Studierenden aus China, die an dem Projekt teilgenommen haben. Wie aber erleben sie ihren Alltag in Tübingen? Welche Erfahrungen machen sie an der Universität? Auf welche Probleme stoßen sie? Was ist neu? Wie kann ein Miteinander auf dem Campus entstehen? Und vor allem: Was nehmen sie aus ihrem Aufenthalt in Deutschland – aus ihrem eigenen „Chapter Germany“ – mit zurück nach Hause?
Henriette Schneider und Leonie Winterpacht haben sich für Ihren Beitrag zur Ausstellung mit dem Begriff „Chinakompetenz“ auseinandergesetzt: was bedeutet er, warum hat er eigentlich nichts mit den chinesischen Studierenden zu tun? Zum Beginn des Studienprojekts nahmen die beiden deshalb am Kurs „Understanding Chinese – Chinesen verstehen lernen“ des Transdisciplinary Course Program (ehemals Studium Professionale) der Universität Tübingen teil, gemeinsam mit dem gesamten Projektteam. Der Begriff „Chinakompetenz“, der eigentlich aus der Interkulturellen Kommunikation stammt, blieb für sie dennoch vage. Feststellen konnten sie, dass die Universität Tübingen großen Wert auf gute Kontakte und Austausch mit Studierenden und Forschenden aus China legt und gleichzeitig die Angebote für die eigenen Studierenden und Beschäftigten gezielt erweitert: China Forum Tübingen, China Centrum, Peking Summer School, Sprachkurse etc. Bemerkenswert war, dass die befragten chinesischen Studierenden mit dem Begriff „Chinakompetenz“ wenig anfangen konnten. Vergleichbare Angebote und Begrifflichkeiten gibt es in China kaum, und dass, obwohl die chinesischen Studierenden häufig mehr über Deutschland wissen als umgekehrt die deutschen Studierenden über China. „Chinakompetenz“ also doch als ein typisch deutsches Konstrukt?
Untersucht wurden ebenfalls spezifische Probleme der Corona-Krise wie Einsamkeit – für einige chinesische Studierende ein Anreiz, überhaupt an dem Projekt teilzunehmen und auf diese Weise Kontakte zu knüpfen. Auch Stereotypen und das Erleben von Rassismus in Alltagssituationen, wie beim Ebay-Kauf oder im Supermarkt, wurde von der Projektgruppe mit ihren chinesischen Interviewpartnerinnen und -partnern diskutiert und für die Ausstellung aufgearbeitet.
Eines hat das Studienprojekt sehr deutlich gemacht: Wichtig für das interkulturelle Verständnis ist in jedem Fall das direkte Gespräch und die persönliche Begegnung. Die Ausstellung zeigt in diesem Zusammenhang sehr schön die metaphorische Kraft der chinesischen Sprache: das Schriftzeichen 萍 steht für die die Pflanze „Wasserlinse“, das Zeichen 水 für „Wasser“ und das Zeichen 相逢 bedeutet „Zufallsbekanntschaft“. Zusammen bedeuten alle drei Schriftzeichen 萍水相逢 „Bekanntschaft schließen“: wir Menschen bewegen uns alle wie Wasserpflanzen im Wasser, ohne festen Ort, und der Zufall führt uns zusammen – so findet Begegnung statt.
Prorektorin Professorin Dr. Monique Scheer, die selbst am LUI lehrt, betonte bei der Ausstellungseröffnung, dass Projekte wie „Chapter Germany“ wichtig für die Universität Tübingen seien, um neben Forschung und Lehre ihrem dritten Auftrag nachzukommen: dem Wissenstransfer von Forschungsergebnissen in eine breite Öffentlichkeit. „Solche öffentlichkeitswirksamen Projekte sind wesentlicher Markenkern des Faches Empirische Kulturwissenschaft, sie gehören sozusagen zur DNA des Ludwig-Uhland-Instituts. Das ‚forschende Lernen‘ ist nach wie vor integrierter Bestandteil des Masterstudiengangs EKW, das LUI hat hier Pionierarbeit in innovativen Lehrformaten geleistet“, sagte Scheer.
Maximilian von Platen
Chapter Germany 德国篇章
Die Ausstellung entstand in enger Kooperation mit dem China Centrum Tübingen (Projektleiter Dr. Anno Dederichs), den Studierenden und Lehrenden des Studiengangs International Master of Interior Architectural Design (IMIAD) der Hochschule für Technik (HFT) Stuttgart und dem Linden-Museum Stuttgart. Dort ist sie noch bis zum 1. Mai 2022 zu sehen. Der 300-seitige Begleitband ist im Museums-Shop und beim TVV-Verlag für 19,00 Euro zu erwerben.
Das Projekt wird gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung, die Karl Schlecht Stiftung, die Tübinger Vereinigung für Volkskunde e.V., den Universitätsbund Tübingen, die Stiftung Landesbank Baden-Württemberg und das Netzwerk transferorientierter Lehre in Baden-Württemberg.
Das Team des Ausstellungsprojekts: Ourania Amperidou, Katrin Brück, Jasmin Kellmann, Beate Krainikov, Marie-Theres Pecher, Cornelia Richter, Aline Riedle, Henriette Schneider, Fabian Stöckl, Luisa Vögele, Leonie Winterpacht, Shuai Zhang