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Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 1/2023: Leute

Pionierin der Augenheilkunde: 100. Geburtstag von Elfriede Aulhorn

Erfinderin des Tübinger Perimeters, des Mesoptometers und des Phasendifferenzhaploskops

Am 8. Januar wäre Elfriede Aulhorn 100 Jahre alt geworden. Sie war eine der bedeutendsten Sinnesphysiologinnen der Augenheilkunde und erste Leiterin und damit gewissermaßen auch Gründerin der Neuroophthalmologie in Tübingen. Die Medizinerin war außerdem eine der allerersten Lehrstuhlinhaberinnen an der Universität Tübingen überhaupt und die erste Frau, die in der Bundesrepublik Deutschland einen Lehrstuhl für Augenheilkunde erhielt.

Elfriede Aulhorn wurde am 8. Januar 1923 als Elfriede Andreae in Hannover geboren. Ihr Medizinstudium von 1943 bis 1950 in Freiburg und Göttingen wurde durch Einsätze als Schwesternhelferin im Zweiten Weltkrieg unterbrochen. In Göttingen lernte sie den Arzt Otfried Aulhorn kennen, der sich als wissenschaftlicher Assistent sinnesphysiologischen Fragen widmete. Sie heirateten 1947 und erforschten gemeinsam den Lesevorgang. Zwei Tage vor der Geburt ihrer Tochter starb Otfried Aulhorn 1948 an den Spätfolgen einer Kriegsverletzung.

Nach Abschluss ihres Studiums und ihrer Doktorarbeit im Jahr 1950 arbeitete Elfriede Aulhorn am physiologischen Institut, an einer Inneren Abteilung und an der Nervenklinik in Göttingen. Ihre mit „ausgezeichnet“ bewertete Doktorarbeit „Über Fixationsbreite und Fixationsfrequenz beim Lesen gerichteter Konturen“ basierte auf den gemeinsamen Forschungen mit ihrem früh verstorbenen Mann.

In Tübingen wurde 1952 Heinrich Harms (1908-2003) Direktor der Augenklinik und Lehrstuhlinhaber. Eines seiner brennendsten Forschungsinteressen war die Entwicklung eines Verfahrens zur exakten Vermessung des Gesichtsfeldes. Das war ihm in mehreren Anläufen nicht gelungen. 1953 empfahl Günther Mackensen, Oberarzt bei Harms und später Direktor der Freiburger Augenklinik, seinem Chef Elfriede Aulhorn, die er aus Göttingen kannte. Anlässlich eines Besuchs in Braunschweig vereinbarte Harms ein Treffen mit der jungen Ärztin. Er sprach seine Probleme mit der Entwicklung einer genauen Gesichtsfeldprüfung ihr gegenüber an. Harms schreibt über dieses Gespräch: „Frau Aulhorn verstand sofort die Grundidee und war nach wenigen Gesprächsminuten in der perimetrischen Denkweise zuhause. Das hatte ich noch nie erlebt!“ Er bot ihr eine Forschungs- und Assistenzarztstelle an, und Elfriede Aulhorn, als alleinerziehende Mutter auf einen sicheren Arbeitsplatz angewiesen, zog 1954 von Göttingen nach Tübingen um. Dort brachte sie die von Harms angestoßene Entwicklung der Perimetrie voran.

Das war alles andere als einfach. Es bestand eine Industriekooperation, aber dem Industriepartner gelang es nicht, das Gerät so zu bauen, dass es den Anforderungen genügte, was er den Tübingern schließlich bedauernd eröffnete. Heinrich Harms, der Klinikdirektor, Jakob Kocher, der Werkstattleiter und Elfriede Aulhorn fuhren gemeinsam von jener frustrierenden Besprechung über die Schwäbische Alb nach Tübingen zurück, unglücklich über das Scheitern ihres großen Projektes. „Dann bauen wir es eben selbst!“ habe Elfriede Aulhorn auf dieser Fahrt schließlich gesagt. So kam es. Was dem Industriepartner nicht gelang, schaffte sie gemeinsam mit der neugegründeten Feinmechanischen Werkstatt der Augenklinik unter Leitung von Jakob Kocher.

Das „Tübinger Perimeter“ wurde für Jahrzehnte der Goldstandard der Perimetrie und eine unerschöpfliche Quelle, aus der viele Erkenntnisse über den Sehvorgang gewonnen wurden. Beispielsweise kann man am Gesichtsfeldbefund erkennen, ob ein sehbehinderter Patient fähig ist, exzentrisch zu fixieren. Wenn die Makula nicht mehr funktioniert, muss man an dem, was man sehen will vorbeischauen lernen. An der Verschiebung des blinden Flecks erkennt man, ob der Patient dies beherrscht. Mit dem Tübinger Perimeter gewonnene Erkenntnisse wurden zur Voraussetzung für das Verständnis des Sehens Sehbehinderter. In den 1980er-Jahren entwickelte das Team um Kocher und Aulhorn mit einem neuen Industriepartner ein automatisches Perimeter, das sich von allen anderen Geräten durch ein nach der Physiologie der Netzhaut und Sehbahn ausgerichtetes Raster unterscheidet. Dieses Raster wird unverändert noch heute in Tübingen eingesetzt. Auch die Untersuchungsstrategie weicht nur gering vom ursprünglichen Ansatz ab.

Viele weitere Verfahren gehen auf Elfriede Aulhorn zurück, beispielsweise das Phasendifferenzhaploskop zur Untersuchung des beidäugigen Sehens und das Mesoptometer zur Untersuchung des Dämmerungssehens. Diese Geräte waren nach genial einfachen Prinzipien konstruiert. Beispiel Mesoptometer: Es geht darum, das Kontrastsehen bei schwachem Licht zu untersuchen, z.B. um die Eignung zum nächtlichen Autofahren zu beurteilen. Dabei projizieren zwei Projektoren auf die gleiche Projektionstafel. Ein Projektor enthält ein Sehzeichen mit maximal hohem Kontrast in einem hellen Umfeld. Der zweite Projektor projiziert nur ein Umfeld ohne Sehzeichen. Beide Projektoren werden in ihrer Helligkeit durch Graufilter gesteuert, die so abgestimmt sind, dass das projizierte Bild immer gleich hell bleibt. Hat der Projektor mit dem Sehzeichen nun ein dunkles Filter und der ohne Sehzeichen ein helles, ist der Kontrast niedrig. Ist es umgekehrt, ist der Kontrast hoch. Geräte nach diesem Prinzip sind bis heute Goldstandard in der Prüfung des Kontrast- und Dämmerungssehens.

1961 habilitierte Elfriede Aulhorn sich mit der Arbeit „Über die Beziehung zwischen Lichtsinn und Sehschärfe“. Sie war erst die vierte Frau, der die Habilitation an der Medizinischen Fakultät in Tübingen gelang, ihre drei Vorgängerinnen erhielten allerdings keinen Lehrstuhl. 1966 übernahm sie die Leitung der neu geschaffenen Abteilung „Pathophysiologie des Sehens“ an der Augenklinik. Diese Abteilung wurde 1974 um das Fach Neuroophthalmologie erweitert. Elfriede Aulhorn war außerordentlich beliebt und geachtet. Winfried Rathke, der als Assistenzarzt in den 1960er-Jahren mit ihr gearbeitet hatte, schreibt: „Sie war ganz liebenswürdig, kameradschaftlich, einfühlsam, grundsolide, immer zufrieden. Von ihr kam nie ein böses Wort.“

Und sie hörte ihren Patienten genau zu und gewann neue Erkenntnisse zur Funktion des Sehens aus dem, was sie in ihrer Sprechstunde erfuhr. Besonders setzte sie sich für diejenigen ein, denen nicht auf einfache Weise geholfen werden konnte. Es gab für sie kein „Da kann man nichts mehr machen.“ Mit Phantasie und Engagement half sie, wo es nur ging. Sie ließ niemand allein. Die Sehbehindertenambulanz geht auf ihre Initiative zurück. Ihr umfangreiches Wissen gab sie voller Begeisterung an ihre Mitarbeiter und Studierenden weiter. Ihr gelang es, schwierige und komplexe Sachverhalte so zu erklären, dass alle es verstanden, unabhängig von Wissenstand und Voraussetzungen.

Sie stecke voller Ideen und Pläne und freute sich auf Zeit nach der Emeritierung, als unerwartet die Krankheit zurückkehrte, die sich viele Jahre still verhalten hatte. Sie verlor nicht den Mut und kämpfte gegen den Tumor an, konnte ihn aber nicht mehr ein zweites Mal besiegen. Trotz allem Leid blieb sie stets humorvoll, fröhlich und mitfühlend, so wie sie immer gewesen war. Die Straße, an der unsere Klinik liegt, und eine Straße in Bietigheim tragen ihren Namen. Der Verein für neuroophthalmologische Forschung vergibt den Elfriede-Aulhorn-Preis an Forschende, die auf ihrem Gebiet und in ihrem Sinn herausragende Arbeiten publiziert haben. Die Sektion Neuroophthalmologie der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft veranstaltet alle zwei Jahre die Elfriede-Aulhorn-Vorlesung als Anerkennung für Verdienste um die Neuroophthalmologie im deutschsprachigen Raum.

National und international hochgeachtet, wurde Elfriede Aulhorn 1986 in die Leopoldina aufgenommen. 1989 übergab sie ihren Lehrstuhl an ihren Nachfolger Eberhardt Zrenner. Am 14. März 1991 verstarb sie nach langer schwerer Krankheit.

Helmut Wilhelm

Anlässlich des 100. Geburtstag von Elfriede Aulhorn fand am 14. Januar 2023 an der Tübinger Universitätsaugenklinik ein Symposium der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) statt.

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