Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2024: Alumni Tübingen
„Sei da, wenn du gebraucht wirst!“
Alumnus Axel Wehrle über das Leben nach eigenem Maßstab
Axel Wehrle, zuletzt Director Customer Service bei Virgin Media O2 in London, studierte Zeitgenössische Geschichte und Rhetorik an der Universität Tübingen (Class of 1999). Er hat 20 Jahren Erfahrung im Kundendienst und wird von großen Unternehmen gerufen, wenn sie ihre Serviceabteilungen verbessern und verändern müssen. In seiner Arbeit stellt er die Bedürfnisse der Kunden in den Mittelpunkt der Unternehmensprozesse. Sein Ziel ist es, große Organisationen in leistungsstarke, kundenorientierte Einheiten umzuwandeln, Trends zu antizipieren, Mitarbeiter zu entwickeln und Begeisterung zu wecken. Vorherige Stationen waren Telefónica Germany, Amazon, General Motors und 1&1 Versatel.
Herr Wehrle, beschreiben Sie sich selbst in einem Hashtag.
#Change. Ich habe in zehn verschiedenen Städten gelebt und in fünf verschiedenen großen Unternehmen gearbeitet. Ich glaube, für mich wäre das Schlimmste, morgens aufzustehen und zu wissen, wie mein Tag sein wird. Mein Privatleben ist die Konstante in meinem Leben. Ich bin seit 30 Jahren mit meiner Frau zusammen und kenne viele Freunde seit 20 Jahren.
Wenn ich an meine Zeit in Tübingen denke, ….
… habe ich das Studium als eine einfache und eine entspannte Zeit in Erinnerung. Ich habe 18 Semester studiert – es war jetzt nicht so, als wenn ich wahnsinnig viel Zeitdruck gemacht hätte. Auch heute noch ist Tübingen ein Pflaster, auf dem ich mich einfach wohlfühle und gerne hierher zurückkomme. Stuttgart ist heute meine Homebase. Wenn im Sommer das Wetter schön ist, setzen meine Frau und ich uns in unseren Oldtimer und besuchen Tübingen.
Was war Ihr größtes Learning in Ihrem Studium?
Für mich war das Entscheidende, meine Themen selber zu setzen. In der Schule ist man es gewöhnt, dass immer einer da ist, der sagt: Wir wollen jetzt Folgendes mit dir erreichen und dazu machst du bitte das und das. Dann ist das das Ergebnis und dann machen wir das als nächstes. Diesen Schritt zu gehen, zu sagen, das können wir eigentlich auch anders machen, in dem ich für mich überlege: Was möchte ich eigentlich erreichen? Wie komme ich ans Ziel? Was ist mein Vorschlag zu dem Thema? Das war mit großem Abstand das wichtigste Learning, das ich auch heute in meinem Berufsleben einsetze.
Was ist momentan ein berufliches Thema, mit dem Sie sich beschäftigen?
Momentan bin ich in London bei VirginMediaO2. Mein Verantwortungsbereich umfasst etwa 7500 Leute und die Aufgabe ist es, diesen Bereich technologisch, organisatorisch und prozessual für die Zukunft aufzustellen. In allen Dienstleistungsbereichen, egal ob im Bereich Callcenter-Agent, Versicherungsvertretungen oder Sachbearbeitung, kommen tektonische Veränderungen durch zwei Dinge.
Das eine ist Artificial Intelligence. Sie werden in Zukunft als Unternehmen ihre Abläufe live monitoren, sie werden wissen, wie in dieser Minute ihre Kunden zu einem Thema stehen. Das andere sind immer stärkere Trends zum Offshoring. In Europa haben wir nach wie vor so eine alte westliche Arroganz, die uns vorgaukelt, dass unser Maß an Qualität, das German Engineering, nur wir hinkriegen. Das ist einfach totaler Unsinn. Da sind großartig ausgebildete Leute in Indien, Pakistan oder China, Menschen mit Biss. Die bauen was auf, die sehen eine Zukunft. AI und Offshoring sind beides Veränderungen, die unsere Abläufe in Europa ziemlich stark beeinträchtigen werden.
Meine Aufgabe ist es, diese Veränderungen zu antizipieren und ins Unternehmen zu übersetzen. Ich stehe in Kontakt mit den Firmen, die die technischen Driver sind, wie beispielsweise Amazon. Dabei sammle ich Erkenntnisse und leite Möglichkeiten ab. Ziel ist es, die Transformation zu gestalten – möglichst ohne dass die Organisation auseinanderfällt.
Eine der großen Herausforderungen, die jedes Unternehmen momentan hat, ist die Kombination von AI-Applikationen in der Customer-Facing-Unit mit IT-Systemen, die vor 25 Jahren programmiert wurden und die maximal unflexibel sind. Außerdem verändert der Einsatz von AI den Einsatz von Menschen. Die dürfen Sie nicht vergessen! Die Mitarbeitenden lesen natürlich auch Zeitung, hören Nachrichten, in denen jeden Tag zwei Dutzend Experten erzählen, dass sie in einem Jahr nicht mehr gebraucht werden. Was macht das mit ihnen? In meinen Augen müssen Sie diese Menschen mitnehmen, sie begleiten und Ideen oder Optionen für die Zukunft aufzeigen. Manchmal muss man an dieser Stelle auch ehrlich sein und sagen: Ja, ich glaube diese Stelle werden wir in zwei oder drei Jahren wirklich nicht mehr haben.
Das ist tough!
Ja! Allerdings habe ich in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht, dass man durchaus auch schwierige Entscheidungen treffen kann, wie beispielsweise einen Standort zu schließen, solange man sie fair und solange man sie offen trifft. Manchmal führt einfach kein Weg dran vorbei. Aber Sie müssen probieren, die Leute so gut wie möglich abzuholen. Ich habe immer mein Möglichstes getan, um solche Veränderungen so wenig beschädigend wie irgend möglich zu gestalten. Wenn sie in Biografien eingreifen – aus meiner Sicht – müssen sie alles, was sie können, dafür tun, damit sie diese Biografien nicht zerstören. Ich habe meiner Tochter mal gesagt, wenn ich in einer Situation bin, in der ich in Biografien eingreifen muss und ich nicht schlecht schlafe am Tag davor, dann höre ich den Management-Job auf.
Was schätzen Sie an anderen?
Zwei Dinge: Ich schätze sehr stark Menschen, die mit offenem Visier leben. Menschen, die mir sagen, wo sie stehen, was sie denken, wo sie hin wollen. Und das in Kombination mit der Gabe oder der Fähigkeit, eine andere Ansicht wahrnehmen und diskutieren zu können. Andere Meinungen, andere Punkte aushalten zu können ist ganz wichtig. Wenn das Wetter schön ist und die Wellen glatt sind, dann kann jeder segeln. Das geht auch mit Jedem. Aber was passiert, wenn es schwierig wird? Was passiert, wenn wir eine Entscheidung treffen müssen? Wenn Offenheit und die Fähigkeit, die Perspektive zu wechseln, vorhanden sind, haben Sie die Basis, auf der Sie mehr oder weniger alles gemeinsam machen können. Am Ende des Tages funktionieren Dinge besser, wenn man sie gemeinsam macht.
Was wäre ein Ratschlag, den Sie aus der heutigen Perspektive Ihrem jüngeren Ich geben würden?
Sei da, wenn du gebraucht wirst.
Der größte Teil des Lebens spielt sich – glücklicherweise – auf diesem glatten Wasser mit Sonne und einer leichten Brise ab. Ab und an jedoch stürmt es. Ihre Mitmenschen werden sich daran erinnern, wo Sie waren, als es gestürmt hat, und was Sie getan haben. Also: Sei einfach da, wenn du gebraucht wirst.
Dann: Mach das, was dich interessiert.
Als ich mit der Schule fertig war, saß ich mit meinem Dad zusammen und hab zu ihm gesagt: Du, ich habe irgendwie so überhaupt keine Idee, was ich machen soll. Ich kann ganz gut reden und wahrscheinlich könnte ich Jura studieren, das krieg ich schon irgendwie hin mit dem Numerus Clausus. Aber es interessiert mich halt gar nicht. Was mich interessieren würde, ist Geschichte, aber es gibt schon so viele Taxifahrer und ich weiß jetzt gar nicht, was ich damit mach hinterher... Mein Dad – er war auch im Management – sagte damals zu mir: Mach das, was dich interessiert. Wenn es dich interessiert, wirst du gut darin sein, und wenn du gut drin bist, wirst du erfolgreich sein. Diesen Rat gebe ich heute gerne weiter. Überhaupt: Ich würde nichts planen. Ich habe viele Leute erlebt, die ihre Karrieren geplant haben. Das geht in 90 Prozent der Fälle schief, weil sie im Rahmen ihrer Planung irgendwohin müssen, wo sie gar nicht sein wollen. Stattdessen würde ich viel aus der Intuition machen und dahingehen, wo mein Herz sagt: Ich glaube, hier bin ich richtig.
Und zuletzt: Halte so viele Optionen wie möglich offen.
Ich stelle mir das Leben vor wie ein großes Gebäude mit ganz vielen Räumen und Türen. Ich gehe in einen Raum hinein und gucke, wie es da drin ist. Vielleicht gefällt es mir – dann bleibe ich; vielleicht gefällt’s mir nicht – dann gehe ich raus und in den nächsten. Allerdings gibt es in diesem Gebäude auch Räume, wenn Sie in die hinein gehen, dann kommen Sie nicht mehr zurück und es geht auch nur noch eine Tür weiter. Das sind die Räume, die ich grundsätzlich vermeiden würde. Weil ich nie weiß, ob es da drin so ist, wie ich es mir vorgestellt habe.
Was war das letzte Buch, das Sie zuletzt gelesen haben, und wem würden Sie es empfehlen?
Promised Land von Barack Obama finde ich absolut faszinierend. Einerseits ist es spannend zu verstehen, wie das politische System der USA tickt, und zweitens ist das einfach eine tolle Geschichte von jemandem, der seinen Weg gemacht hat. Das zweite Buch – und die gehören für mich zusammen – ist Both/And: A Life in Many Worlds von Huma Abedin. Sie wurde in Indien geboren, ist in Saudi-Arabien und den USA aufgewachsen und war die Büroleiterin von Hilary Clinton. Ich empfehle die beiden Bücher in Kombination, weil beide den Wahlkampf um die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten beschreiben, bei dem Obama und Clinton gegeneinander laufen und dann beschließen, dass sie zusammenarbeiten. Nur eben aus unterschiedlichen Perspektiven. Diese Bücher empfehle ich jedem, weil man ein unheimlich gutes Bild davon kriegt, wie die Demokratie in den USA funktioniert.
Herr Wehrle, worüber wären Ihre Mitmenschen überrascht, wenn sie wüssten….
… dass, wann immer ich in Deutschland bin, ich abends anderthalb bis zwei Stunden mit meiner Tochter und dem Hund unterwegs bin. Das ist unser Ritual. Sie erzählt von ihrer Woche, ich erzähle von meiner Woche, und ich glaube, wir therapieren uns gegenseitig, während wir das machen (lacht). Meine Tochter ist 17 Jahre und die haben in dem Alter heute, finde ich, einfach Erkenntnisse, die wir nicht gehabt haben zu dem Zeitpunkt. Das ist wahnsinnig wertvoll und gibt einfach eine völlig andere Perspektive. Manchmal kann ich ihr auch eine andere Perspektive geben und das ist cool. Das ist, glaube ich, etwas, was die meisten nicht von mir denken würden.
Das Gespräch führte Inga van Gessel