Uni-Tübingen

Teilprojekt B03: Lawinen als Bedrohung sozialer Ordnungen. Katastrophentraditionen im zentralen Alpenraum (19. und 20. Jh.)

Abstract

Das Teilprojekt der Empirischen Kulturwissenschaft befasst sich mit lokalen Formen alpiner Katastrophenkultur. Am Beispiel zweier Lawinenunglücke (Blons 1954 und Galtür 1999) soll hierbei erörtert werden, ob und inwiefern solche Extremereignisse die spezifischen Ordnungskonfigurationen der betroffenen Gesellschaften bedrohen. Zugleich geht das Projekt der Frage nach, vermittels welcher Deutungsmuster und Handlungsstrategien die jeweiligen Gruppierungen den plötzlichen systemgefährdenden Einbruch dieser Katastrophen zu bewältigen suchen.

Projektteam

Projektleitung:
Prof. Dr. Reinhard Johler

Mitarbeiter:

Jan Hinrichsen, M. A.
Sandro Ratt, M. A.

Hilfskräfte:

Jan Lange

Florian Mittelhammer

und Luisa Mell

Fachgebiete und Arbeitsrichtung

Empirische Kulturwissenschaft

Projektbeschreibung

Der SFB 923 „Bedrohte Ordnungen“

Im Zentrum des SFB 923 steht die Untersuchung bedrohter Ordnungen. Es geht um Aufruhr, Revolutionen und Katastrophen – um Situationen, in denen der alltägliche Lebensvollzug dergestalt durchbrochen ist, dass etablierte Wahrnehmungsformen, Verhaltensmuster und Handlungsoptionen an Verlässlichkeit verlieren. Hierbei gilt das Interesse zum einen den spezifischen ordnungskonstitutiven Strukturen, den Wertvorstellungen und Wissensbeständen, die das jeweilige soziokulturelle Gefüge ehedem ungefragt prägten und nun durch die Konfrontation mit einer existentiellen Bedrohung herausgefordert werden. Zum anderen geht es darum, den gesellschaftlichen Umgang mit solchen systemgefährdenden Ein- und Umbrüchen in den Blick zu nehmen und nach fallübergreifenden Reaktionsmustern zu fragen.

Der interdisziplinäre Zugang sowie eine breite zeitliche und räumliche Streuung der Untersuchungsgegenstände sollen gewährleisten, dass im Rahmen des SFB vielfältige Ordnungskonfigurationen unter dem Aspekt der Bedrohung analysiert und einem umfassenden Vergleich zugeführt werden können. Ausgehend von den konkreten Fallbeispielen der sechzehn Projekte wird so das übergeordnete Ziel verfolgt, gegenwärtige Formen der Krisendiagnostik zu historisieren. Zugleich möchte sich der SFB, vermittels seiner historisch-diachron ansetzenden Untersuchung von Situationen verdichteten Veränderungsdrucks, am Entwurf einer weitreichenden Theorie des schnellen sozialen Wandels beteiligen. Schließlich soll ein empirisch fundiertes Modell „Bedrohter Ordnungen“ erarbeitet werden, das sich überkommenen Leitdifferenzen – wie vormodern/modern oder europäisch/außereuropäisch – nicht im Voraus fügt, sondern zu deren Überprüfung und Neujustierung beiträgt.

Das Teilprojekt der Empirischen Kulturwissenschaft

Katastrophen als Untersuchungsgegenstand

Das Projekt der Empirischen Kulturwissenschaft ist dem Themengebiet „Katastrophen“ zugeordnet, das neben „Aufruhr“, „Ordnungszersetzung“ und „Ordnungskonkurrenz“ einen zentralen Teilbereich des SFB bildet. Katastrophen sind durch ein großes Bedrohungspotential gekennzeichnet, das zumeist unvermittelt freigesetzt wird und sich in einschneidenden Folgen, wie Zerstörung, Verletzung und Tod, äußert. Sie besitzen daher einen hohen Grad an Evidenz: Die Bedrohung als solche wird in der Regel nicht bestritten, führt zugleich aber oftmals zu divergierenden Deutungen. Katastrophen rufen starke Emotionen hervor; sie müssen vermittelt und verarbeitet werden, drängen zu Kommunikation und raschem Handeln. Folglich beinhalten sie ein enormes Veränderungspotential und lassen sich somit auch als Motor für Innovationen und beschleunigten sozialen Wandel verstehen.

Zwei Fallbeispiele: Blons (1954) und Galtür (1999)

Zwei katastrophale Ereignisse stehen im Fokus des Projekts. In der Vorarlberger Gemeinde Blons gingen im Januar 1954 dreizehn Lawinen ins Tal, denen 57 Bewohner zum Opfer fielen. Der Tiroler Skitourismusort Galtür wurde im „Lawinenwinter“ 1999 von einer Lawine getroffen, die 31 Menschenleben forderte und große Teile des Dorfes verwüstete. Beide Katastrophen wurden demzufolge als gravierende Einbrüche wahrgenommen, auf die es mit vielfältigen kulturellen, technologischen und ökonomischen Verarbeitungsstrategien zu reagieren galt.

Solche Bewältigungstechniken sind jedoch nicht nur durch die konkreten Anforderungen des jeweiligen Ereignisses bestimmt, sondern vollziehen sich unter dem Einfluss spezifischer Katastrophentraditionen. Diese bilden sich infolge des wiederholten Umgangs mit Katastrophen heraus, werden zu tragenden Bestandteilen der lokalen Kultur und kommen in entsprechenden Bedrohungssituationen als vorgeprägte Wahrnehmungs- und Handlungsmuster erneut zur Wirkung. So fragt das Projekt danach, wie überlieferte Katastrophentradition, aktuelle Krisendiagnose und antizipierende Katastrophenprognose miteinander verbunden sind und befasst sich am Beispiel der zu untersuchenden Lawinenabgänge etwa mit dem Prozess der Katastrophendeutung und den Strategien des Bewältigungshandelns, aber auch mit längerfristigen Verarbeitungsformen im Rahmen der lokalen Erinnerungskultur oder in rückblickenden medialen Inszenierungen.

Da im Vergleich zu anderen Projekten des SFB die räumliche und zeitliche Distanz der gewählten Fallbeispiele verhältnismäßig gering ausfällt, kann hierbei vermittels komparativer Analyse auch feiner nuancierten regionalen Transformationsprozessen nachgegangen werden. Es geht also nicht zuletzt darum, durch den Vergleich zweier Lawinenunglücke zeittypische Muster der Bedrohungskommunikation und des Bewältigungshandelns zu markieren, diese aufeinander zu beziehen und somit Veränderungen in der sozialen Ordnung des Alpenraums herauszuarbeiten.

Projektbezogene Vorträge und Publikationen

Hinrichsen, Jan

Johler, Reinhard

Ratt, Sandro

Workshops, Tagungen und Konferenzen

Projektrelevante Lehrveranstaltungen

Hinrichsen, Jan / Ratt, Sandro