Uni-Tübingen

Überdosis unter Wasser

Fisch, Wasserfloh oder Schnecke: Medikamente und Chemikalien im Wasser gefährden ihre Gesundheit. Biologin Rita Triebskorn setzt sich für einen besseren Schutz ein – und verschafft sich weltweit Gehör.

Anfangs will Rita Triebskorn Lehrerin werden. Sie legt in Heidelberg ihr Staatsexamen für Biologie und Germanistik ab. Dann reist sie auf die Philippinen, um im Rahmen eines Austauschprogramms an der Universität von San Carlos in Cebu City bei einem meeresbiologischen Praktikum mitzuhelfen. Nebenher arbeitet sie in der Forschung: Es geht um Schnecken und ihre Parasiten sowie um Muscheln und ihre Reaktion auf Schwermetalle. Dabei packt Triebskorn der wissenschaftliche Ehrgeiz:  Doktorarbeit statt Staatsdienst ist nun ihre Idee.

Etwas Angewandtes soll es sein, keine reine Grundlagenforschung. Ende 1986 war nach einem Großbrand beim Pharmakonzern Sandoz in der Schweiz giftiges Löschwasser in den Rhein geflossen und hatte ein Fischsterben verursacht. Die Katastrophe löste einen Boom in der Umweltforschung aus, ein Bereich, der die Zoologin interessiert. Für eine Doktorarbeit über den Wirkmechanismus von Schneckenbekämpfungsmitteln gelingt es ihr, Gelder aus der Industrie und vom Land Baden-Württemberg zu bekommen – der Beginn einer Karriere in der Ökotoxikologie. Rita Triebskorn, seit 2006 Professorin an der Universität Tübingen, hat ihre Mission gefunden.

Süßstoff im Grundwasser

Wie Gifte auf kleine und auf große Tiere wirken, damit kennt sich die Zoologin aus. Außer Schnecken gehören mittlerweile auch Flohkrebse, Forellen, Wasserflöhe und Zuckmückenlarven zu den Organismen, die sie im Freiland und im Labor untersucht. „Forschung für Fische und Flohkrebse“ hat sie selbst ihr Spezialgebiet überschrieben – denn darum geht es: dass es den natürlichen Bewohnern der heimischen Gewässer gut geht. Dass sie nicht krank werden von den Chemikalien, die der Mensch sorglos die Toilette hinunterspült oder ins Waschbecken kippt, seien es Medikamentenrückstände, Pflanzenschutzmittel oder auch scheinbar Harmloses wie der Süßstoff Sucralose, enthalten in Limonade, Bonbons oder Hustensaft. „Der Mensch nimmt ein Medikament nur gelegentlich ein, der Fisch schwimmt aber sein ganzes Leben darin“, sagt Triebskorn.

Sucralose gehört neben Acesulfam, Cyclamat und Saccharin zu den am häufigsten verwendeten Zuckeraustauschstoffen. Vor allem Diätlebensmittel werden damit künstlich gesüßt. Dreifach chloriert schmecke Sucralose den menschlichen Darmbakterien nicht, erklärt die Forscherin, sie bauen den Stoff nicht ab, er gelangt unverändert ins Abwasser. Auch dort bauen ihn die Bakterien nicht ab. Da er als letzter der vier Süßstoffe zugelassen wurde, in Europa erst 2004, dauerte es eine Weile, bis er in der Umwelt nachgewiesen wurde. Inzwischen findet er sich zunehmend im Bodensee – und im Grundwasser Deutschlands und der Schweiz.


Der Mensch nimmt ein Medikament nur gelegentlich ein, der Fisch schwimmt aber sein ganzes Leben darin.


Dabei ist er für Tiere nicht ungefährlich: Nachweislich löst er bei Ratten und Mäusen Diabetes aus, genau das, woran oft Menschen leiden, die den Stoff einnehmen. Bei Mäusen kommt es auch zu Leberentzündungen, und die Zusammensetzung ihrer Darmflora ist gestört. Damit gehört der schwer abbaubare Süßstoff zum von Menschen verursachten Giftcocktail in den Gewässern. Und der muss – so fordert es die Ökotoxikologin – „reduziert werden zugunsten der darin lebenden Organismen“. Sie würde zum Thema Sucralose gern ein Forschungsprojekt starten und wartet nur noch auf eine passende Ausschreibung.

Vierte Reinigungsstufe für Europas Kläranlagen

Zusammen mit ihrem Team aus rund dreißig Nachwuchsforschenden sowie Technikerinnen und Technikern setzt Triebskorn vor allem auf verbesserte Kläranlagen. Eine vierte Reinigungsstufe wird gerade europaweit eingeführt, das ist auch mit ihr Verdienst. In den zusätzlichen Klärbecken kommt Ozon zusammen mit granulierter Aktivkohle oder einem Sandfilter zum Einsatz, oder es wird Pulveraktivkohle mit einem Sandfilter kombiniert.

In dem vom Bundesforschungsministerium geförderten Verbundprojekt, SchussenAktivplus, erforschte sie am Beispiel des Flusses Schussen, der in den Bodensee mündet, die biologischen Auswirkungen solcher Kläranlagen. Unter ihrer Leitung arbeiteten damals auch Ingenieure, Behörden und Fischereiverbände, insgesamt etwa 150 Personen. Hauptergebnis: Die zusätzliche Reinigungsstufe reduziert Spurenstoffe und deren Wirkungen um 80 bis 90 Prozent. Auch die Bakterienbelastung des Wassers sinkt.

Eingesetzt wurden Messverfahren und Experimente im Freiland, im Labor und in einem von Triebskorn mitentwickelten raffinierten Bypass-System, bei dem Flusswasser durch Aquarien geleitet wird, die am Ufer in Bauwagen untergebracht sind. Darin befinden sich beispielsweise Forellen. Ihre Eier und die frisch geschlüpften Embryonen werden gezählt und auf Entwicklungsstörungen hin untersucht. Beim „aktiven Monitoring“ von Flohkrebsen dagegen kommen Teeeier zum Einsatz, die von schwimmenden Flößen an einer bestimmten Stelle im Fluss festgehalten werden, sodass die Krebse und ihre Nachkommen nach dem Versuch wieder eingesammelt werden können.

Komplexe Zusammenhänge abbilden

In der warmen Jahreszeit sind Teams aus Rita Triebskorns Arbeitsgruppe mit einem vollgepackten Transporter unterwegs – mit Eimern, Sieben, Messgeräten, Laborbedarf, Tierkäfigen, Futter für Mensch und Tier und Schutzkleidung wie etwa Wathosen und Gummistiefel. Die Flüsse und Seen im Tübinger Umkreis kennen die Forscherinnen und Forscher ziemlich gut.

Wegweisende Projekte wie SchussenAktivplus machten Triebskorn weltweit bekannt. 2013 wurden sie und Heinz-Rüdiger Köhler vom Magazin „Science“ gebeten, einen Übersichtsartikel über Pestizide und ihre Wirkung auf die Umwelt zu schreiben. Köhler leitet die Abteilung Physiologische Ökologie der Tiere, zu der die Arbeitsgruppe von Rita Triebskorn gehört. Er ist zugleich ihr Ehemann, mit dem sie viele Forschungsarbeiten gemeinsam veröffentlicht hat.

„Science“ bot ihnen ein Forum für grundsätzliche Aussagen: Es sei schwierig, unter Freilandbedingungen nahtlose Ursache-Wirkungs-Ketten nachzuweisen, wie im Labor üblich, argumentierten sie. „Deshalb suchen wir nach der Plausibilität kausaler Zusammenhänge. Wir versuchen eine Plausibilitätskette aufzustellen, die alles abdeckt, von den molekularen Effekten der Pestizide auf Individuen bis zu den Wirkungen auf das gesamte Ökosystem.“ Nur so könne man der Komplexität ökologischer Fragestellungen beikommen, davon ist Triebskorn überzeugt. Die Arbeit machte Schlagzeilen, auch die französische „Le Temps“ und die amerikanische „Washington Post“ berichteten.


Wir versuchen eine Plausibilitätskette aufzustellen, die alles abdeckt, von den molekularen Effekten der Pestizide auf Individuen bis zu den Wirkungen auf das gesamte Ökosystem.


Stimme in der Glyphosat-Debatte

Wie wichtig solche Forschung ist, zeigt die lange, heftige Debatte um das Pflanzenschutzmittel Glyphosat. Seine Zulassung wurde von der EU-Kommission im Dezember 2023 um zehn Jahre verlängert. In einem Statement gegenüber dem Science Media Center warnte Triebskorn, auch Mitglied des Expertengremiums der Bundesregierung zur Bewertung der Relevanz von Spurenstoffen, vor diesem Schritt.

„In der Begründung der EU-Kommission wird darauf Bezug genommen, dass Wissenslücken bezüglich toxikologischer und ökotoxikologischer Endpunkte vorhanden seien und vor diesem Hintergrund die Zulassung von Glyphosat gerechtfertigt wäre. Diese Begründung ist in fachlicher Hinsicht nicht fundiert, ignoriert neue wissenschaftliche Erkenntnisse und berücksichtigt in keinster Weise das Vorsorgeprinzip“, so Triebskorn. Nach wie vor stehe die Krebsgefahr beim Menschen im Zentrum der Glyphosat-Debatte. Daten zu Wirkungen auf die Umwelt würden kaum berücksichtigt. Dazu zählt sie nachgewiesene Gewebeschädigungen bei Fischen oder Veränderungen im Mikrobiom (Bakterien, die zum Beispiel im Verdauungstrakt leben) bei Fischen und Bienen. Es ist eine hochpolitische Form der Wissenschaft, der sich Rita Triebskorn verschrieben hat. Sie geht gern an die Öffentlichkeit, hält Vorträge (sei es in der Kinder-Uni oder in einer Kläranlage), berät die Politik, gibt Interviews oder trifft sich mit Fischern, die ihre Expertise schätzen.

So ist sie doch eine Art Lehrerin geworden – eine mit großer Reichweite. Im Mai 2023 verlieh die Universität ihr den Tübinger Preis für Wissenschaftskommunikation. Die Begründung der Jury: „Rita Triebskorn hat in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlich und hartnäckig daran gearbeitet, ein Bewusstsein für ihr zentrales Forschungsthema zu schaffen, den ökologischen Schutz von Gewässern.“

Text: Judith Rauch


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