Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 4/2021: Leute

Theologe ersten Ranges mit Verantwortung für Kirche und Gesellschaft

Zum Tod von Professor Dr. Dres. h.c. Eberhard Jüngel D.D. ein Nachruf des Evangelisches Stifts Tübingen und des Departements für Systematische Theologie

Am 28. September 2021 ist der renommierte evangelische Theologe Eberhard Jüngel nach langer Krankheit im Alter von 86 Jahren in Tübingen verstorben. Mit ihm verliert die Evangelische Theologie eine ihrer bedeutendsten und profiliertesten Persönlichkeiten, einen Theologen ersten Ranges. Die Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität Tübingen trauert um Eberhard Jüngel und ist zugleich stolz und dankbar, dass er von 1969 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2003 als Ordinarius für Systematische Theologie und Religionsphilosophie und Direktor des Instituts für Hermeneutik in Tübingen gewirkt und wesentlich zum nationalen und internationalen Ansehen der Fakultät beigetragen hat.

Am 5. Dezember 1934 in Magdeburg geboren, fand Jüngel durch die Erfahrung, dass unter Bedingungen der Diktatur außer im Kabarett nur im kirchlichen Rahmen die Wahrheit gesagt werden konnte, zur Kirche. Folgerichtig studierte er Evangelische Theologie – am katechetischen Oberseminar in Naumburg/Saale, an der kirchlichen Hochschule Berlin bei Ernst Fuchs und, im Rahmen eines staatlich nicht genehmigten Auslandsaufenthaltes, in Zürich bei Gerhard Ebeling und in Basel bei Karl Barth. Nach seinem ersten theologischen Examen und einer kurzen Vikariatszeit wurde er Assistent an der Kirchlichen Hochschule Berlin, an der er 1961 mit der neutestamentlichen Arbeit „Paulus und Jesus“ (publiziert 1962, 7. Aufl. 2004) promoviert wurde, einer Untersuchung, die darauf zielt, die Überstimmung zwischen dem paulinischen Daseinsverständnis und der jesuanischen Reichgottesverkündigung nachzuweisen. Bereits ein Jahr später habilitierte sich Jüngel mit der Arbeit „Zum Ursprung der Analogie bei Parmenides und Heraklit“ im Fach Systematische Theologie und wurde unmittelbar nach der Habilitation Dozent für Neues Testament und Dogmatik am Sprachenkonvikt Ostberlin, dessen Rektor er zeitweise war. Ab 1966 wirkte Jüngel als Ordinarius für Systematische Theologie und Dogmengeschichte in Zürich, bis er 1969 einen Ruf an die Universität Tübingen annahm, nicht zuletzt auf Drängen Ernst Käsemanns, der Jüngel aufforderte, von seinem Zürcher Balkon in die Tübinger Arena zu steigen. Trotz mehrerer ehrenvoller Rufe anderer Universitäten hielt Jüngel seiner Tübinger Fakultät, deren Dekan er gleich zweimal war, bis zu seiner Emeritierung die Treue.

Jüngel verstand die Theologie als eine Wissenschaft, die eine stetige Verantwortung für Kirche und Gesellschaft hat. Daher übernahm er neben seiner Professur zahlreiche Aufgaben: Er war lange Jahre Mitglied der Synode der EKD und Vorsitzender der Kammer für Theologie der EKD. Von 2003 bis 2006 leitete er die Forschungsstätte der evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg. Er war kooptiertes Mitglied der Fakultät für Philosophie und Geschichte der Universität Tübingen, Mitglied zahlreicher in- und ausländischer Akademien der Wissenschaften und Mitglied des Staatsgerichtshofes des Landes Baden-Württemberg. Seine Predigttätigkeit, u.a. als Frühprediger an der Tübinger Stiftskirche von 1970 bis 1985, fand großen Zuspruch und hat sich in mehreren Predigtbänden niedergeschlagen.

Seine wissenschaftliche Leistung und sein Engagement fand in zahlreichen Ehrungen Anerkennung: Von den Universitäten Aberdeen, Greifswald und Basel erhielt er die Ehrendoktorwürde. Er war Träger des großen Bundesverdienstkreuzes mit Stern, der Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg und der Brenz-Medaille der Württembergischen Landeskirche. Zudem erhielt er den Karl-Barth-Preis der Union Evangelischer Kirchen und wurde zum Ehrendomprediger am Berliner Dom ernannt.

Überrascht und „einigermaßen verwirrt“ war Jüngel über die ehrenvolle Wahl zum Mitglied des Ordens Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste, dem er später selbst als Kanzler vorstand. Diese Würdigung zeugt in besonderer Weise von der Ausstrahlungskraft seiner Theologie weit über Fach- und Wissenschaftsgrenzen hinaus.

Wie schon in Zürich war Jüngels Lehrerfolg in Tübingen phänomenal, obgleich oder gerade weil er an seine Hörer höchste Ansprüche stellte. Seine Vorlesungen wurden von einigen Hundertschaften von Studierenden besucht, und wer nicht lange genug vor dem Denk- und Sprachereignis zur Stelle war, musste mit einem der Plätze auf dem Boden, im Stehen oder in einem anderen Hörsaal, in den die Vorlesung übertragen wurde, vorlieb nehmen. Seine Seminare fanden Freitag abends statt, um die Teilnehmerzahl zu begrenzen, was freilich selten gelang. Auf wolkige und unbedachte Antworten von Studierenden konnte er mit strengem Tadel reagieren, während präzise und kluge Antworten bisweilen zu einer ehrenvollen Einladung in seine Wohnung führten. Dort soll, Erzählungen zufolge, auf einen Beistelltisch eine Karteikarte gestanden haben, auf der die Warnung von Joseph Beuys zu lesen war: „Wer nicht denken will, fliegt raus.“

Auch in kirchlichen Debatten war Jüngel ein Freund guter Gründe und klarer Worte: Auf der Synode der EKD 1999 beispielsweise forderte er in einem Grundsatzreferat die Neubesinnung auf den missionarischen Auftrag der Kirche, die ansonsten „Herzrhythmusstörungen“ bekomme. Ebenfalls 1999 kritisierte er die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ zwischen dem Lutherischen Weltbund, der römisch- katholischen Kirche sowie dem Weltrat methodistischer Kirchen und wandte sich gegen eine von Diplomatie und Kompromissen geprägte „Schummel-Ökumene“. Gerade das war aber ein Grund für ihn, den Gesprächsfaden im Ökumenischen Dialog nie abreißen zu lassen. Zum 10. Jahrestag der Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung 2009 hielt er den Festvortrag.

Von 1987 bis 2005 wirkte er im Nebenamt als Ephorus des traditionsreichen Evangelischen Stifts Tübingen. Mit großer Energie hat er die Generalsanierung des Hauses in den frühen neunziger Jahren bewerkstelligt und sich hartnäckig für „sein“ Stift eingesetzt, als es in den Folgejahren zu erheblichen Kürzungen der landeskirchlichen Mittel kam. Seine Überzeugung, dass die Theologie sich nicht genug sein darf, zeigte sich auch hier: Er nutzte seine Kontakte, um hochkarätige Wissenschaftler verschiedenster Fachrichtungen und Künstler ins Haus zu holen, und war maßgeblich an der Gründung der Stiftung Evangelisches Stift beteiligt.

Aus Jüngels umfangreichem Oeuvre sind vier Monographien hervorzuheben, die gleichsam den Nukleus seines Werkes bilden und die Theologie der vergangenen 60 Jahre nachhaltig beeinflusst haben. Den Ausgangspunkt bildet das genannte Buch über Paulus und Jesus, aus dessen exegetischen Einsichten Jüngel Zug um Zug die Konsequenzen für das christliche Verständnis von Gott, Welt und Mensch gezogen hat. Den Implikationen für das Gottesverständnis widmet sich sein Werk Gottes Sein ist im Werden (1965, 4. Aufl. 1986), in dem die Gotteslehre Karl Barths interpretiert und ein Weg zur Überwindung des Gegensatzes zwischen den theologischen Ansätzen Barths und Bultmanns gewiesen wird. Jüngels Opus Magnum Gott als Geheimnis der Welt (1977, 8. Aufl. 2010) zieht aus dem christlichen Verständnis von Gott die Konsequenzen für ein angemessenes Verständnis der Welt, das ausgehend von der Kreuzestheologie und im Gegenzug zum neuzeitlichen Theismus und Atheismus entfaltet wird. Das Verständnis des Menschseins schließlich, das mit dem christlichen Gottes- und Weltverständnis verbunden ist, steht im Fokus des Buches Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens (1998, 6. Aufl. 2011).

Kurz und prägnant hat Jüngel sein theologisches Anliegen auf die geistreiche Formel gebracht, die eine Hommage auf den späten Schelling darstellt: „Gott ist nicht notwendig, er ist mehr als notwendig.“ Gemeint ist, dass ein grundsätzliches Missverständnis vorliegt, wenn Gott nach dem Muster klassischer Gottesbeweise zum notwendigen Mittel für Welterklärungszwecke instrumentalisiert wird. Mehr als notwendig ist Gott, weil er frei ist und sich in überraschender Weise als Liebe zu erkennen gibt, indem er „zur Welt kommt“. Diese Liebe aber macht, so der grandiose Schlussakkord des Opus Magnum, „aus Habenden Seiende, die – als hätten sie nicht – zu werden verstehen: nämlich in der beziehungsreichen Unterschiedenheit von dem Gott, der die weder erschleichbare noch erzwingbare, ganz und gar nicht notwendige, eben so aber mehr als notwendige Liebe ist, eigentümlich menschliche und immer noch menschlicher werdende Menschen.“

Wir verlieren mit Eberhard Jüngel einen Theologen und Intellektuellen von Weltrang, einen hochgeschätzten Kollegen, einen verehrten und beliebten Lehrer. Auf die Interviewfrage nach einem Leben „danach“, antwortete Jüngel an seinem 80. Geburtstag, er erwarte kein „totaliter aliter“: „Die Liebe, die uns widerfährt, wenn wir Gott von Angesicht zu Angesicht sehen, ist auch Liebe – aber gesteigert. Es gibt Phänomene hier in Gottes Schöpfung, die sind in der Ewigkeit steigerungsfähig: Lieben, Loben, Danken, Gemeinschaft.“