1078 Menschen wurden während der NS-Zeit nach ihrem Tode der Anatomie der Universität Tübingen übergeben – ohne zu Lebzeiten das Einverständnis erteilt zu haben. Die Namen und Lebensdaten sind nun in einer Forschungsdatenbank erfasst, die erste ihrer Art an einer deutschen Universität. Das Forschungsprojekt Gräberfeld X, eine Initiative der Universität Tübingen und der Universitätsstadt Tübingen, hat biographische Daten sowie alle verfügbaren Angaben aus der Anatomie zusammengetragen. Die Datenbank wurde anlässlich des Holocaustgedenktags am 27. Januar der Öffentlichkeit vorgestellt und wird noch weiterentwickelt.
Ein vergleichbares Werkzeug gebe es bundesweit noch zu keinem anderen anatomischen Institut, sagt Projektleiterin Professorin Benigna Schönhagen. „Die Datenbank bietet völlig neue Möglichkeiten, sich über die 1078 Menschen zu informieren.“ Von vielen Betroffenen hätten biographische Angaben gefehlt, und nur wenige Lebensgeschichten seien bekannt gewesen. „Aber einige Lücken konnten wir im Forschungsprojekt zum Gräberfeld X bereits schließen“, berichtet die Historikerin.
Exemplarisch stellt das Projekt erstmals die Lebensgeschichte von Josef Bukofzer vor, eines der wenigen jüdischen Opfer, die im Gräberfeld X bestattet wurden. Seine Geschichte wurde von der Studentin Antonia Wegner im Rahmen eines Lehrforschungsprojektes rekonstruiert.
Fragen, die vorher einzeln recherchiert werden mussten, lassen sich nun mit wenigen Klicks und über Filterfunktionen klären. So ist beispielsweise erfasst, wie viele Hingerichtete, Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter oder Kriegsgefangene pro Jahr in die Anatomie kamen, wer sie waren und woher sie stammten. Zudem finden sich Informationen zu den Frauen und Männern, unter anderem zu Geburts- und Sterbeorten. Weitere künftige Erkenntnisse werden in die Forschungsdatenbank einfließen.
„Die Aufbereitung dieser Daten ist weit mehr als eine Sammlung von Zahlen: Die Arbeit des Forschungsprojekts gibt NS-Opfern aus dem Gräberfeld X wieder eine Geschichte und macht ihre Schicksale unvergessen“, betont Professorin Monique Scheer, Prorektorin für Internationales und Diversität an der Universität Tübingen. „Das Projekt ‚Gräberfeld X‘ leistet damit einen wertvollen Beitrag zur Aufarbeitung der NS-Zeit an der Universität wie auch im anatomischen Institut Tübingen.“
„Mit der neuen Datenbank steht der Forschung und der interessierten Öffentlichkeit nun ein außerordentlich hilfreiches Werkzeug zur Verfügung, das am lokalen Beispiel eindrücklich vor Augen führt, welch tödlichen Folgen die verbrecherische Politik des Nationalsozialismus in allen Lebensbereichen für ungezählte Menschen hatte“, so Oberbürgermeister Boris Palmer.
Antje Karbe
Das Projekt Gräberfeld X arbeitet die Vorgänge in der Tübinger Anatomie während der NS-Zeit auf. Es ist nach dem Friedhofsareal benannt, auf dem alle Toten beigesetzt wurden, die zuvor am Anatomischen Institut der Universität Tübingen Lehr- und Forschungszwecken dienen mussten.
Kontakt
Prof. Dr. Benigna Schönhagen und Stefan Wannenwetsch, M.A.
Universität Tübingen
Forschungsprojekt Gräberfeld X
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