Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2023: Leute

Langjähriger Kustos der Zoologischen Sammlung mit außergewöhnlicher Artenkenntnis

Zum Tode von Dr. Gerhard Mickoleit ein Nachruf von Wolfgang Maier und Erich Weber

Am 1. Mai verstarb im Alter von 92 Jahren Dr. Gerhard Mickoleit, der langjährige Kustos der Zoologischen Sammlung der Universität Tübingen. Zusammen mit seiner verstorbenen Frau Erika machte er diese Einrichtung zu einem einzigartigen Zentrum der faunistischen und systematischen Zoologie, dessen Bedeutung weithin bekannt war und das zahlreiche namhafte Wissenschaftler hervorgebracht hat.

Gerhard Mickoleit wurde am 26. März 1931 in Memel in eine Handwerkerfamilie hineingeboren und er hat dort auch seine Kindheit und Jugend verbracht. Diese Prägung nach ostpreußischer Art hat er nie verleugnet. Hier hat er auch frühzeitig seine Neigungen zur Biologie und die Liebe zur Natur entwickelt, wobei vor allem seine Besuche beim geliebten Großvater auf der damals naturbelassenen kurischen Nehrung prägend waren. Als die Front näherrückte begab sich die Familie auf eine lange, abenteuerliche Flucht in den Westen, welche in Lauenburg in Schleswig-Holstein endete. Hier verbrachte er, in zunächst ärmlichsten Verhältnissen, die Nachkriegsjahre bis zum Abitur 1953. Bereits als Schüler begann er sich intensiv mit Insekten und anderen Tieren zu beschäftigen und knüpfte Kontakte zu bekannten Hamburger Entomologen wie Dr. Gustav A. Lohse.

Das Studium begann er zunächst an der Universität Hamburg. Sein Studium war breit naturwissenschaftlich angelegt, aber er pflegte auch durchaus philosophische Interessen. Bereits zum Wintersemester 1953 wechselte er nach Tübingen. Unter Professor Gerhard Krause wurde damals die neu erbaute Zoologische Lehr- und Schausammlung eingerichtet. Mit anderen Studierenden hat er daran sehr intensiv mitgearbeitet, und vermutlich tragen Tausende Etiketten seine Handschrift. Hier lernte er auch seine Mitstudentin Erika Kreyer kennen, die er später ehelichte. Seine wissenschaftlichen Interessen galten in erster Linie der Entomologie, aber er hat sich auch sehr intensiv mit der Anatomie der Wirbeltiere und des Menschen beschäftigt. Nach dem frühen Tod des Ordinarius Hermann Weber (1956) übernahm Professor Helmut Risler die Betreuung seiner Dissertation. Der neue Ordinarius Gottlieb Grell (ab 1957) erkannte rasch die besondere Eignung des jungen Gerhard Mickoleit und machte ihn als Kustos zum Nachfolger des nach Würzburg verzogenen Gerhard Krause.

Als neuem Leiter der Zoologischen Lehrsammlung war es Dr. Mickoleit ein besonderes Anliegen, junge Biologen mit der Vielfalt der heimischen Fauna bekannt zu machen. In seiner Lehre wie privat hat er vielfach auf den Rückgang dieser Vielfalt hingewiesen, insbesondere den schon früh wahrgenommenen Insektenschwund. Daher baute er die zoologischen Bestimmungsübungen aus, in denen sich Studierende anhand der von Herrn Mickoleit angepassten Bestimmungsschlüssel ganz konkret mit den Organismen auseinandersetzen konnten – was dann auch in anspruchsvollen Klausuren überprüft wurde. Besonders interessierte und begabte Studierende hatten dann die Möglichkeit, ihr Wissen als Kursassistenten zu vertiefen. Die Anwendung dieses Wissens wurde auf den legendären Exkursionen zum Neusiedler See, in die Pyrenäen und an die meeresbiologische Forschungsstation in Roscoff eingeübt, bei denen die außergewöhnlich breite Artenkenntnis von Dr. Mickoleit deutlich wurde.

Die verschiedenen Bestimmungsübungen wurden in eine Einführung in Evolution und Systematik der jeweiligen Tiergruppen eingebettet. Im Zentrum dieser Lehrveranstaltungen, von denen der Insekten- und Wirbeltierkurs eine zentrale Rolle im Grundstudium der Zoologen einnahmen und die meisten Teilnehmenden für das Fach prägten, stand die charismatische Person von Dr. Mickoleit. Außergewöhnlich klar und einprägsam war seine theoretische Begleitung der Kursveranstaltungen, die dadurch den Charakter einer Einführung in die Zoologie annahmen. Neben diesen Übungen führte er auch Präparierübungen an Wirbeltieren durch und beteiligte sich am Zoologischen Großpraktikum. Gemeinsam mit Dr. Reif gelang es ihm Professor Willi Hennig für gemeinsame Seminare über Fragen der Phylogenetischen Systematik nach Tübingen zu locken, mit dem ihn eine tiefempfundene Freundschaft verband.

Ab 1969 war Mickoleit auch intensiv mit der Einrichtung und Nutzung der neuen Forschungsstation in Bad Buchau am Federsee befasst. In zunehmendem Maß wurde er von Professor Grell autorisiert, Themen für Staatsexamensarbeiten, Diplomarbeiten und Dissertationen zu vergeben und zu betreuen. Aus dem Kreis der Doktoranden kristallisierten sich alsbald namhafte Wissenschaftler heraus, die an zahlreichen universitären und musealen Einrichtungen ihren weiteren Weg machten.  Dabei wurden unter seiner Anleitung sehr unterschiedliche Themenfelder bearbeitet: Natürlich standen entomologische Arbeiten im Mittelpunkt (Baehr, Burmeister, Tröster, Beutel, Belkaceme, Krell, Staniczek, u.a.), aber er betreute auch mammalogische und ornithologische Themen (Fischer, Weber, u.a.).

Die eigenen Publikationen von Gerhard Mickoleit, v. a. über Dipteren und Mecopteren, zeichnen sich durch Klarheit und Gedankenschärfe aus; seine zeichnerischen Fähigkeiten kamen ihm dabei sehr zustatten. Insbesondere seine hervorragende Beobachtungsgabe erregte allgemeine Bewunderung. Mit seinen Publikationen hat er sich weltweit Anerkennung verschafft und er pflegte Kontakte zu führenden Fachkollegen. Er war unter anderem ‚Fellow der Royal Entomological Society‘. Die von Willi Hennig verfassten Wirbellosenbände des ‚Taschenbuch der Speziellen Zoologie‘, welches als erstes Lehrbuch den heute allgemein angewandten Prinzipien der phylogenetischen Systematik folgte, hat Mickoleit – in einer Zeit starker Kontroversen im Gebiet der biologischen Systematik – für eine 2. Auflage gründlich überarbeitet. Dieses Kompedium ist in seiner Prägnanz und Übersichtlichkeit bis heute unübertroffen. Nach der Pensionierung 1996 konnte er noch ein monumentales Werk über die ‚Phylogenetische Systematik der Wirbeltiere’ fertigstellen. Das Buch von bleibende Bedeutung umfasst über 650 Seiten und enthält mehrere hundert exzellente Originalzeichnungen des Autors. Dieses Buch hat auch international große Anerkennung gefunden.

So präsent und dominant Gerhard Mickoleit auch im engeren Fachkreis war, so zurückhaltend war er in der breiteren Öffentlichkeit. In vertrautem Kreis wurde jedoch durchaus deutlich, dass er seine Umgebung bis zuletzt mit wachem Verstand wahrnahm und beurteilte. Sein Rat wurde daher im Rahmen der Fakultät immer sehr geschätzt. Sein Tod ist nicht nur ein herber Verlust für die Kollegen, sondern auch für die Universität Tübingen.