Austauschstudentin Daryna Kukhar aus Kyiv berichtet über ihr Jahr in Tübingen, ihre Hoffnungen und die Erfahrungen ihrer Kommilitoninnen und Kommilitonen in der Ukraine. Daryna Kukhar ist 20 Jahre alte und studiert im 6. Semester Germanistik an der Universtität Kyiv. Vor einem Jahr sprach berichtete sie in „Uni Tübingen aktuell“ (Link zum Interview von 2022) über ihren Weg nach Tübingen. Wie geht es ihr heute – ein Jahr nach Kriegsausbruch am 24. Februar 2022?
Seit unserem letzten Gespräch sind einige Monate vergangen. Wie ist es dir in der Zwischenzeit ergangen?
Danke fürs Fragen! Dies war sehr unterschiedlich. Aber im Allgemeinen war es gut. Ich habe viel gelernt. Ich habe viel gearbeitet. Ich habe an Wohltätigkeitsprojekten teilgenommen und mich ehrenamtlich engagiert.
Wie waren der Start und die letzten Monate an der Uni Tübingen? Was fiel dir leicht? Was war herausfordernd?
Die Stadt ist faszinierend! Sie belebt, auch wenn es scheint, dass alles sehr schwierig und manche Situationen hoffnungslos sind. Morgenkaffee irgendwo im Zentrum, Sonnenschein im Park bei einem Spaziergang, Blumenläden mit bunten Sträußen: Das ist ein Hochgefühl! An der Universität schien mir alles einfach und interessant zu sein! Denn ich habe „mein“ Fachgebiet gewählt und werde in meinem Traumberuf arbeiten! Jede Vorlesung, jedes Seminar, jede Hausaufgabe – ich habe alles genossen. Ich habe alle Projekte und Aufträge mit großer Freude erledigt und gute Noten bekommen. Schwer war es nur, als ich schlechte Nachrichten von zu Hause erhielt. Dann verlor ich die Konzentration, meine Gedanken waren in der Ukraine und ich weinte abends oft allein. Es ist kaum zu beschreiben. Nur Menschen, die den Krieg erlebt haben, können mich verstehen.
Wie hast du Anschluss gefunden?
Ich bin ein Mensch, dem es leicht fällt, Kontakte mit anderen zu knüpfen. Ein Gespräch zu beginnen oder aufrechtzuerhalten, ist für mich eine Selbstverständlichkeit! Ich liebe diese Welt, ich liebe Menschen und ich liebe es zu arbeiten, zu lernen, Zeit mit Menschen zu verbringen, ihre Lebensgeschichten zu hören und sie um Rat zu fragen. Nichts in dieser Welt macht Sinn, wenn man ein Einzelgänger ist. Was zählt, sind nicht Geld, Städte, Dinge oder Besitztümer, sondern Menschen! Deshalb war es für mich nicht schwer, mich einzuleben, denn neue Bekanntschaften und starke Freundschaften haben mir geholfen!
Du hast damals im Interview erzählt, dass du nach deinem Auslandssemester an der Uni Tübingen online an deiner Heimatuni weiterstudieren möchtest. Wie funktioniert das und wie erlebst du die Online-Lehre?
In Wirklichkeit ist die Situation sehr kompliziert. Das Problem ist, dass es in der Ukraine aufgrund von Raketenangriffen aus Russland oft keine Stromversorgung gibt und somit auch keine Heizung, kein Wasser, kein Elektrizität, kein Internet und keine Kommunikationsmöglichkeiten. Daher ist es für die meisten Lehrenden, die sich noch in Kyiv aufhalten, manchmal unmöglich, synchron einen Unterricht abzuhalten. Manchmal machen wir nur die Aufgaben und bekommen dann ein Feedback von den Lehrkräften. Auf der einen Seite ist das traurig, aber auf der anderen Seite wird mir bewusst, wie stark unser Volk ist, wie einfallsreich unsere Leute sind. Sie kaufen Generatoren, arbeiten in Coworking Spaces und halten Unterricht auf der Straße ab. Ich bin begeistert! Alles wird gut und wir können es schaffen.
Hältst du weiterhin Kontakt zu deinen Kommilitoninnen und Kommilitonen aus der Ukraine? Wie geht es ihnen und wie setzen sie ihr Studium fort?
Ja, natürlich bleibe ich in Kontakt mit meinen Kommilitoninnen und Kommilitonen aus der Ukraine. Es ist sehr schwierig für sie. Sie können nicht normal arbeiten und sich ausruhen, und ihr Studium ist stressig. Ich habe die Situation oben beschrieben. Aber trotzdem bleiben sie positiv und versuchen sogar, mich zu unterstützen, wenn ich nicht zu Hause bin. Sie sagen, dass wir uns bestimmt bald wieder treffen und durch Khreshchatyk [Anm. d. Red.: berühmte Flaniermeile in Kyiv] spazieren gehen werden.
Wie würdest du heute die Situation in der Ukraine beschreiben?
Die Lage in der Ukraine ist heute schrecklich. Mein Land braucht Unterstützung! Es scheint, dass die Welt den Krieg allmählich vergisst, aber das darf nicht sein. Russland darf nicht einfach ein anderes Land verschlingen! Stromausfälle sind noch nicht das Ende der Fahnenstange. Ich fürchte mich vor dem 24. Februar, dem Jahrestag der russischen Invasion. Die russischen Behörden versprechen den Ukrainern bereits „Überraschungen“ und „Feuerwerk“. Alle sprechen von einer neuen starken Offensive im Krieg. Ich würde jetzt wirklich gern nach Hause kommen, aber meine Freunde an der Front raten mir davon ab. Sie machen sich Sorgen um mein Leben. Die Lage ist sehr angespannt. Auch die Grenzen zu Weißrussland sind nicht ruhig. Ich bete jeden Tag für den Frieden in meinem Land, aber es hat sich noch nicht gebessert.
Das Gespräch führte Inga van Gessel