Nachdem der ehemalige ukrainische Präsident Wiktor Janukowytsch im November 2013 das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union nicht unterzeichnet hat, ändert sich die politische Lage in der Ukraine rasend schnell: Nach den wochenlangen Demonstrationen auf dem Majdan in Kiew und mehreren Räumungsversuchen durch die Sicherheitskräfte eskalierte Mitte Februar die Gewalt, Janukowytsch wurde gestürzt; am ersten Märzwochenende wurde in einer völkerrechtswidrigen Invasion die Halbinsel Krim von russischen Armeeeinheiten besetzt.
Zur aktuellen Lage in der Ukraine erscheint am 12. März der Band „Majdan! Ukraine, Europa“: Gemeinsam mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern des EU-Projektes „TransStar Europa“ hat Claudia Dathe, Koordinatorin des Projekts am Slavischen Seminar der Universität Tübingen und Übersetzerin aus dem Ukrainischen, aktuelle Artikel aus ukrainischen und westeuropäischen Medien zusammengetragen, und mit Teilnehmern des EU-Projekts übersetzt. Parallel wurden in Kooperation mit dem Journalisten und Verleger Andreas Rostek Autorinnen und Autoren in der Ukraine um Beiträge gebeten, auch diese Texte in Übersetzung enthält der Band. „Majdan! Ukraine, Europa“ erscheint im Verlag edition.fototapeta (Berlin) und wird auf der Leipziger Buchmesse vom 13. bis 16. März in mehreren Präsentationen vorgestellt.
Die derzeitigen Ereignisse in der Ukraine rund um den Euromajdan 2013/2014 werden von vielen Europäern in Westeuropa einerseits und der Ukraine andererseits grundsätzlich unterschiedlich bewertet. Für die Mehrzahl der Ukrainer, die in Kiew und anderswo gegen das alte Regime protestieren, steht außer Frage, dass es sich um eine breite zivilgesellschaftliche Bewegung handelt, deren Ziel es ist, einen Diktator zu stürzen, neue rechtsstaatliche Institutionen aufzubauen, damit grundlegenden Menschenrechten wie dem Recht auf Menschenwürde und auf persönliche Freiheit zur Geltung zu verhelfen und mit der Durchsetzung dieser Werte in die europäische Wertegemeinschaft einzutreten. Demgegenüber steht ein Teil der Westeuropäer der Bewegung in der Ukraine skeptisch oder sogar ablehnend gegenüber. Trotz vielfältiger Berichterstattungen fällt die Orientierung in der Sachlage schwer, da die Verhältnisse sich nicht mit westeuropäischen Maßstäben messen lassen.
Der Band „Majdan! Ukraine, Europa“ reagiert auf die politischen Ereignisse in der Ukraine und auf das Bedürfnis nach differenzierten Analysen und Wortmeldungen. Er versammelt Stimmen ukrainisch- und russischsprachiger Intellektueller in der Ukraine, von Autoren und Historikern zu den aktuellen Entwicklungen und ihren historischen und gesellschaftlichen Hintergründen. Ebenso zu Wort kommen westeuropäische Politiker, Soziologen und Historiker, die die Lage aus ihrer Sicht analysieren. So entsteht ein Dialog zwischen Bürgern der Ukraine und Westeuropäern über die Lage im Land und das Verhältnis zu den europäischen Nachbarn. Der ukrainische Historiker Andrij Portnov (Berlin/Dnipropetrowsk) analysiert in seinem Artikel „Die ukrainische ‚Eurorevolution‘ unter anderem das Europa-Bild der Ukrainer: „Die proeuropäische Rhetorik auf dem Majdan erinnert an den Mythos von Europa als Raum von Rechtsstaatlichkeit, sozialer Gerechtigkeit, Freizügigkeit und Meinungsfreiheit; […] er überhöht nicht nur den Inhalt des von der Ukraine nicht unterzeichneten Assoziierungsabkommens, sondern beschönigt auch den derzeitigen Zustand der Europäischen Union. Der Mythos hat mit der derzeitigen europäischen Wirklichkeit nichts zu tun“.
Timothy Garton Ash, Historiker und Direktor des European Studies Centre an der University of Oxford, geht auf die Rolle Russlands ein: „Russland hat ein Imperium verloren, seine neue Rolle aber noch nicht gefunden. Russlands geringe Selbstsicherheit ist untrennbar verbunden mit einer tiefsitzenden Verunsicherung in Bezug auf die Ukraine.“ Timothy Snyder von der Universität Yale nimmt Putins Eurasische Union und die dahinterstehende Ideologie unter die Lupe. Der ukrainische Historiker Yaroslav Hrytsak (Lemberg) erläutert den Wandel der ukrainischen Gesellschaft von einer von gegenläufigen Identitäten in der West- und Ostukraine geprägten Gesellschaft hin zu einer Gemeinschaft, die sich westlichen Werten zu nähern versucht. Wolodymyr Kulyk (Kiew) befasst sich in seinem Artikel mit dem Rechten Sektor. „Seit dem 19. Jahrhundert pausenlos Befreiung und Nationsbildung. Was wir verschlafen, in Leibeigenschaft verdarbt und in Versen verdichtet haben, während alle normalen Menschen ihre Nationen geschaffen haben, das holen wir jetzt nach“, versucht der Autor und Blogger Olexandr Stukalo (Charkiw) eine Erklärung der Ereignisse.
Das EU-Projekt „TransStar Europa“, aus dem das aktuelle Buchprojekt hervorgegangen ist, läuft seit Januar 2013 und hat zum Ziel, die kleinen europäischen Sprachen und Kulturen besser auf der mentalen Karte Europas zu verankern. Im Laufe des dreijährigen Projektes werden Studierende und young professionals aus acht europäischen Ländern im literarischen Übersetzen und Kulturmanagement geschult. Das Slavische Seminar der Universität Tübingen tritt als koordinierende Organisation auf, weitere Projektpartner kommen aus Tschechien, Polen, Slowenien, Kroatien und der Ukraine.
Das Buchprojekt wurde gefördert aus Mitteln des EU-Projekts „TransStar Europa“ sowie durch die Robert Bosch Stiftung und die Heinrich Böll Stiftung.
Claudia Dathe