Epochenübergreifende und transdisziplinäre Zusammenarbeit
Der SFB Bedrohte Ordnungen arbeitet epochenübergreifend und interdisziplinär nicht nur, weil auf diese Weise seine Forschungsfragen zu beantworten sind, sondern auch, so haben wir im Erstantrag geschrieben, weil er die Diskussionen um Epochengrenzen, die Dichotomie von Vormoderne und Moderne sowie das Bemühen um Interdisziplinarität als Teil einer Neuorientierung der Sozial- und Kulturwissenschaften versteht, die er kritisch begleiten möchte. In der konkreten Arbeit am Gegenstand wird auch das Selbstverständnis der Fächer thematisiert; der SFB „historisiert die Debatten über Interdisziplinarität und Transdisziplinarität und überführt den Debattengegenstand selbst aus der reinen Affirmation in ein Mittel zur Bearbeitung der Identitätsprobleme der Sozial- und Kulturwissenschaften.“[1] Um diesem Anspruch gerecht zu werden, blicken wir vor allem auf die folgenden Entwicklungen.
Nach wie vor ist Inter- oder Transdisziplinarität ein wichtiger Terminus, wenn es um die Organisation von Forschung und Wissensproduktion geht.[2] Inzwischen werden die Versprechen der Inter- und Transdisziplinarität aber auch kritisch oder zumindest als „paradoxe Diskurse“ wahrgenommen[3]. Unübersehbar nimmt trotz vieler transdisziplinärer Projekte die disziplinäre Spezialisierung zu; insbesondere wenn es um den wissenschaftlichen Nachwuchs und seine Ausbildung geht, wird man dies im Auge behalten müssen. Hier gilt, was Jürgen Kaube in eigentlich kritischer Absicht angemerkt hat, dass nämlich „normale“ innovativ arbeitende Wissenschaftler immer auch Impulse anderer Disziplinen aufnehmen. Auf der Ebene individueller Forschung müssen Disziplinarität und Interdisziplinarität daher keine einander ausschließenden Gegensätze sein. Für die Syntheseebenen hingegen, die manchmal bereits in Teilprojekten, ganz sicher aber oberhalb der Teilprojekte in den Projektbereichen beginnen, sind methodische Überlegungen zur Strukturierung der Zusammenarbeit durchaus nötig.
In diesem Sinne hatten wir im ersten Antrag als Beispiel die Kooperation zwischen Literatur- und Geschichtswissenschaften genannt, die sich jeweils mit verschiedenen Bedeutungsebenen und Funktionen von Texten beschäftigen. Die Artikel von Fechner et al., Franke/Hirschfelder und Ridder im ersten Band der Reihe „Bedrohte Ordnungen“ dokumentieren das mögliche Zusammenspiel literaturwissenschaftlicher, kulturwissenschaftlicher und geschichtswissenschaftlicher Methoden; deutlich wird aber auch, dass der Blick auf die sprachliche Verfasstheit von Texten zu soziologischem Wissen beitragen kann, soziologische Konzepte umgekehrt literarische Texte erschließen helfen.[4] Dies ist insofern wichtig, als sozialwissenschaftliche Fragen und Methoden auch in der zweiten Förderphase des SFB 923 eine wichtige Rolle spielen werden und die Architektur der zweiten Förderphase sozialwissenschaftliche und kulturwissenschaftliche Ansätze in einem Prozessmodell zusammenzubringt. Hier schließen wir an Forderungen an, die seit langem im Raum stehen,[5] und an Debatten etwa zwischen der angelsächsisch geprägten historischen Soziologie und der deutschen Sozialgeschichte, deren Stand konzise etwa von Jürgen Osterhammel und zuletzt mit etwas anderer Stoßrichtung von Wolfgang Knöbl beschrieben wurde.[6]
Beide Autoren konstatieren eine Geschichte der Missverständnisse und versäumten Chancen des konstruktiven Dialogs. Und beide sehen Desiderata vor allem im konzeptuellen und theoretischen Bereich: Inhaltlich, so scheint es, gibt es einen relativ breiten Konsens, dass die Öffnung sowohl der Geschichtswissenschaft als auch der Soziologie gegenüber den Kulturwissenschaften zu einer willkommenen Verbreiterung der Gegenstände, etwa um Religion, Emotion, Gender, Identität oder Gewalt, führen kann und zum Teil schon geführt hat – nicht zuletzt in unserem SFB. Eine kulturwissenschaftliche Sensibilität allerdings problematisiert auch den systematischen transkulturellen Vergleich, etwa durch Phänomene wie das des Kulturtransfers, ganz zu schweigen von der kulturellen und historischen Speziefik von Begriffen und Variablen. Während Osterhammel den cultural turn skeptisch betrachtet, konstatiert Knöbl eine fruchtbare Annäherung, die sich am wichtigsten vielleicht in zwei letztlich zusammenhängenden theoretischen Problemkomplexen zeigt: Einer betrifft den Umgang mit Zeit als Kategorie und die Konzeptualisierung von Prozessen insbesondere kurz- und mittelfristiger Art, wie sie in Begriffen wie ‚Mechanismus’, ‚Pfadabhängigkeit’, ‚Zyklus’ oder ‚Wiederholungsstruktur’ zum Ausdruck kommen. Im Zentrum des zweiten Problemkomplexes steht die Frage, was in den verschiedenen Wissenschaften eigentlich als Erklärung gilt und welche Rolle Kausalität hier spielen soll.
Knöbl erinnert an die Aufsätze von Andrew Abbott, einem historisch arbeitenden Soziologen (den Knöbl auch als eine theoretische Alternative zu Pierre Bourdieu sieht), in denen er sich bereits zu Beginn der 80er Jahre mit wichtigen Problemen der Zeitlichkeit sozialer Phänomene auseinandersetzt, deren Lösung auch Osterhammel anmahnte und die Knöbl auch heute noch nur unzureichend wahrgenommen, geschweige denn gelöst erscheinen: Es geht um Modelle der Sequenzierung von Ereignissen und deren oft unreflektierten Prämissen, um die Frage, wie eigentlich verschiedene soziale Ordnungen unterschiedlicher Zeitlichkeit interagieren und wie man solche komplexen Prozesse darstellen kann. Narration stellt für Abbott eine mögliche Lösung dar; in einem späteren Aufsatz verweist er auf die Entwicklungen der Erzähltheorie, etwa Paul Ricœurs Temps et Récit (1983 – 85), deren Rezeption durch Historische Soziologen und Geschichtswissenschaftler neue Formen von kausaler Konzeptualisierung anregen könnte.[7]
Dies führt zum zweiten Problemkomplex: Knöbl bezweifelt, dass sich Gesellschaftsgeschichte, Historische Soziologie und Kulturwissenschaften grundlegend in dem unterscheiden, was sie als „Erklärung“ in ihren Wissenschaften akzeptieren. Dies gilt v.a. dann, wenn man kein verkürztes Verständnis von Kausalität zugrunde legt, von dem sich Kulturwissenschaften und z.T. auch die Sozialwissenschaften abgrenzen möchten. Unterscheidet man zwischen (Natur-)gesetz und Gesetzmäßigkeit einerseits und Kausalität, wie der Begriff alltagssprachlich benutzt wird (ein Ereignis wird von einem vorangegangenen verursacht), andererseits, dann muss man letzteres nicht aufgeben, nur weil es den Ansprüchen an Verallgemeinerbarkeit möglicherweise nicht entspricht. Tatsächlich werden einige der sozialwissenschaftlichen Begriffe, die Gesetzmäßigkeiten versprachen, wie etwa ‚Mechanismen’ oder ‚Pfadabhängigkeit’, auch in den Sozialwissenschaften selbst skeptisch betrachtet.[8] Innerhalb von Erzählungen hingegen, so Abbotts damaliger Hinweis, ist man mit dem Gedanken, dass Ereignisse Ursachen nur einer bestimmten Verkettung und Verknüpfung mit anderen Ereignissen sind, wohl vertraut.[9] Eine Herausforderung transdisziplinärer Arbeit besteht ganz sicher in der Verständigung darüber, was eigentlich als Erklärung gelten kann. In Anschluss an Andrew Abbott und seine Arbeiten verweist Knöbl hier kurz auf eine Typologie von Erklärungen, die bei der Forschung an komplexen sozialen Phänomenen vermutlich nebeneinander stehen dürfen müssen.
Am Umgang mit den in unserem SFB zentralen Problemkomplexen „Zeit“ und „Erklärung/Kausalität“ zeigt sich damit eine Annäherung verschiedener Wissenschaften, von der wir in unserer alltäglichen Arbeit am Ziel eines Modells „Bedrohter Ordnungen“ profitieren. Dabei führt die alltägliche Arbeitserfahrung auf Mitarbeiter- wie auf Teilprojektleiterebene eher zu einer reflektierten Disziplinarität, verbunden mit interdisziplinären Interessen und Aufgaben, als zu einer transdisziplinären Neufigurationen. Sowohl die Suche nach neuen zeitlichen und räumlichen Mustern als auch die interdisziplinäre Modellfindung trägt zu einem reflexiven Umgang mit unseren Fachidentitäten bei, die im 19. Jahrhundert geprägt worden sind.