Uni-Tübingen

Untersuchung der Modi schnellen sozialen Wandels

Mit dem Forschungsziel, Modi schnellen sozialen Wandels zu untersuchen, hat der SFB 923 ein Anliegen aufgenommen, das in der Soziologie der 1960er und 1970er Jahre große Bedeutung besaß. Das Grundanliegen, die Veränderungen des Sozialen eigenständig zu gewichten und gleichzeitig gesellschaftstheoretisch einzubetten, hat nach unserer Ansicht an Aktualität bis heute nicht verloren. Doch manche zeittypische modernisierungstheoretische Annahmen, die sich mit dem Begriff verbanden, sind heute nur noch schwer vermittelbar. Zwar haben Thomas Drepper, Andreas Göbel und Hans Nokielski 2005 noch einmal die enge Verbindung zwischen „Sozialem Wandel“ und Selbstbeschreibung der Moderne thematisiert, die in der Hochzeit der Modernisierungstheorien dem Begriff seine Prägnanz gegeben hatte. Unter dem Begriff „Sozialer Wandel“ versuche „die Soziologie ihre Sensibilität für die Unwahrscheinlichkeit und Dynamik der modernen sozialen Welt zu bündeln“. In ihm „konzentriert sich …, gegen die eigentümliche Statik vormoderner Verhältnisse, eines der dominanten Selbstverständnisse der Moderne“[1]. Doch die Verbindung hat sich seither weiter gelockert. Die Entgegensetzung von Tradition und Modernität hat an Glaubwürdigkeit verloren. Vormoderne und Moderne werden nicht mehr im Singular gedacht. Die sektorale Trennung von Wandel (politischer, sozialer, kultureller etc.) wird kritisch diskutiert und die Gegenüberstellung von Statik und Dynamik wirkt simplifizierend, wenn von der Mikroebene aus Veränderungen beobachtet und vorsichtig verallgemeinernd beschrieben werden[2]. Das Soziale erscheint als „ein um Risse und Brüche organisiertes Terrain dessen Grenzen und Strukturen sich in einem Prozess andauernder Konstruktion und Dekonstruktion befinden“[3]. Dementsprechend findet sich der Begriff zwar nach wie vor in vielen historischen, politik- und sozialwissenschaftlichen Texten. Doch er dient eher zur Markierung von vielerlei Wandlungen als zur konzisen Beschreibung, Erklärung oder gar Beurteilung distinkter und in exakt beschreibbarer Weise interagierender sozialer Prozesse[4].

Der SFB hat den Begriff 2011 dennoch aufgegriffen und ihn als schnellen sozialen Wandel zugespitzt. Wir möchten das brachliegende Generalisierungspotential des Begriffs nutzen, um Beobachtungen aus den Teilprojekten vergleichend diskutieren zu können. Wir setzen dabei mit Elisabeth S. Clemens voraus, dass die Forschung eine Veränderung durchlaufen hat von einem ökonomisch und rational grundierten „imagery of systems and-crises, which highlightened revolution and state-building, to multidimensional understandings of emergence and destabilization.”[5] Mit dem Bielefelder Soziologen Hendrik Vollmer (2014 Gastwissenschaftler am SFB) streben wir an, den künstlichen Gegensatz zwischen „evolutionary (gradual) and revolutionary (abrupt) change“[6] zu überwinden, indem wir Ordnung im Plural denken, Statik und Dynamik als gleichzeitig sich ereignend, ja notwendig miteinander interagierend vorstellen. Ordnungen können unterschiedliche Reichweiten haben und müssen nicht sektoral als wirtschaftliche, kulturelle o.Ä. Ordnungen gedacht werden. Indem wir das re-ordering in den Mittelpunkt der zweiten Förderphase stellen, betonen wir die dynamische Interaktion von Akteuren in Umwelten. “Once the multiplicity of orderings, networks, and cultural categories is recognized, then explanations of disruption and change can build on a theoretical imaginery of linking, transposing, fusing, competing, and cross-fertilizing.”[7]

Wir schauen auf das re-ordering von bedrohten Ordnungen, weil in Bedrohungssituationen das Potential für sozialen Wandel besonders hoch ist, wie erneut Hendrik Vollmer gezeigt hat[8]. Wie dieser soziale Wandel aussieht und welche Ähnlichkeiten und Differenzen über Zeiten und Räume hinweg feststellbar sind, wollen wir in Zusammenarbeit von Soziologie und Politikwissenschaft mit Geschichtswissenschaft, Ethnologien, Medien- und Literaturwissenschaften beschreiben lernen. Sozialer Wandel löst sich auf diese Weise aus der Entgegensetzung von Vormoderne und Moderne. Die Richtung des Wandels ist nicht mehr begrifflich vorbestimmt, die Frage danach bleibt aber im Begriff aufgerufen. Außerdem fordert der Begriff unseren Forschungsverbund dazu auf, Bedrohung zwar kommunikativ als Selbstalarmierung aus Ordnungen heraus zu verstehen, sie aber immer mit sozialen Prozessen zu verschränken. Unter den vier Dimensionen bedrohter Ordnungen sind die „Sachebene“ und die soziale Ebene mit ihren Inklusions- und Exklusionsprozessen wichtig und bleiben es auch. Dass sozialer Wandel über die Epochen hinweg interdisziplinär bearbeitbar ist, konnte der SFB auf seiner internationalen Konferenz in London 2014 zeigen, die gemeinsam mit dem dortigen Deutschen Historischen Institut ausgerichtet wurde und an der deutsche, britische, australische und US-amerikanische Wissenschaftler aus verschiedenen Geistes- und Kulturwissenschaften teilnahmen. Die Ergebnisse werden voraussichtlich Ende 2015 in der Reihe „Bedrohte Ordnungen“ publiziert.