Uni-Tübingen

Meinungsfreiheit an der Universität Tübingen

Universitäten sind Orte von Debatten, des Ideen- und Meinungsaustausches sowie der intellektuellen Auseinandersetzung. Rede- und Meinungsfreiheit ist für diese Orte konstitutiv. Deshalb tritt die Universität Tübingen für einen freien und offenen Austausch der Ideen und Meinungen ein.

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Positionspapier der Universität Tübingen

Universitäten sind Orte von Debatten, des Ideen- und Meinungsaustausches sowie der intellektuellen Auseinandersetzung. Rede- und Meinungsfreiheit ist für diese Orte konstitutiv. Deshalb tritt die Universität Tübingen für einen freien und offenen Austausch der Ideen und Meinungen ein. Sie garantiert allen Mitgliedern der Universitätsgemeinschaft größtmögliche Freiräume in den wissenschaftlichen, aber auch in gesellschaftlichen und politischen Diskursen.

Meinungs- und Redefreiheit haben in Deutschland Verfassungsrang. Gesichert wird damit ein Grundrecht eines jeden Menschen und zugleich die Grundlage einer zivilen und demokratischen Gesellschaft. In der Universität ist die Rede- und Meinungsfreiheit darüber hinaus konstitutive Bedingung wissenschaftlicher Diskurse sowie Motor der wissenschaftlichen Entwicklung. Wissenschaftlich sind Meinungen allerdings erst dann produktiv, wenn sie mit Gründen vertreten werden. Daher geht es an einer Universität nicht nur um die Freiheit zur eigenen Meinung, sondern immer auch um die Freiheit, für die eigene Meinung mit wissenschaftlichen Gründen einzutreten. Dem entspricht die grundlegende Pflicht von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Meinungen nach den Standards ihrer Wissenschaftsdisziplin zu begründen und sie dadurch zu wissen-schaftlichen Positionen zu machen.

Insofern die Universität eine über Fakultäten und über Fächer, über Theorieansätze und Methoden hinweg ausgreifende Diskursgemeinschaft ist, sind deren Mitglieder gehalten, sich prinzipiell für die Meinungen der jeweils anderen zu interessieren und deren Begründung ein- und herauszufordern – und dies auf jeden Fall immer dann zu tun, wenn in dieser Diskursgemeinschaft Meinungen vertreten werden, die der kritischen Auseinandersetzungen oder gar des Widerspruchs bedürfen. An der Universität sind freie und offene Diskurse daher nicht nur auf Rede- und Meinungsfreiheit angewiesen. Sie bedürfen zugleich wechselseitiger Aufmerksamkeit und Kritik. Dafür sind immer wieder passende Diskursräume und geeignete Anreizstrukturen zu schaffen und zu gewährleisten.

In wissenschaftlichen Diskursen werden Meinungen von ihren Begründungen her beurteilt. Daher nehmen die daran Beteiligten die Meinungen der jeweils anderen nicht als bloße Meinungen wahr, sondern prüfen diese von den vorgetragenen Gründen her und diese wiederum nach den jeweiligen wissenschaftlichen Standards. Wissenschaftliche Diskurse können daher nur gelingen, wenn sich alle Beteiligten mit den Begrün-dungen der jeweils anderen auseinandersetzen und diese kritisch auf Gültigkeit und Plausibilität, auf Kohärenz und Konsistenz sowie auf die Validität der ihnen zugrunde liegende Verfahren befragen.

Gegensätzliche Auffassungen, Ideen und Meinungen gehören an einer Hochschule zum Alltag. Damit sind Hochschulen ein ausgezeichneter Lernort für gesellschaftliche Pluralität und die dadurch erforderliche Ambiguitäts- und Diversitätstoleranz. In wissenschaftlichen Diskursen werden eigene Positionen mit starken Geltungsansprüchen vertreten, zugleich aber opponierenden Positionen zugestanden, dass auch sie mit hinreichend guten Gründen vertreten werden und dass sie deshalb wert und wichtig sind, vertreten zu werden. Entsprechend zielen die an Hochschulen geführten Meinungs-auseinandersetzungen nicht auf Sieg oder Niederlage, sondern auf ein informiertes und reflektiertes Nebeneinander unterschiedlicher Positionen – und nur darin auf die Bestätigung der eigenen Positionen. Meinungsauseinandersetzungen werden als Motor der jeweils eigenen wissenschaftlichen Erkenntnisse geschätzt. An einer Universität werden deswegen Meinungsverschiedenheiten nicht durch Verbote oder durch Tabuisierungen gelöst, sondern in Meinungsauseinandersetzungen und damit diskursiv ausgetragen. Auch umstrittene oder abweichende Meinungen werden der Kritik ausgesetzt – und so bestätigt, infrage gestellt oder zurückgewiesen. Dabei sind wissenschaftliche Diskurse »schonungslos«; sie verlangen allen Beteiligten nicht nur eine hohe Toleranz gegenüber Andersdenkenden, sondern zugleich auch eine ebenso hohe Kritikfähigkeit und Bereitschaft ab, sich von Andersdenkenden kritisieren zu lassen.

Jedem Mitglied der Universität steht das Recht zu, auf dem Campus geäußerte Ansichten zu kritisieren und zu bestreiten. Allerdings dürfen Hochschulangehörige Meinungsäußerungen, die sie ablehnen, nicht behindern oder in einem Ausmaß stören, dass abweichende Meinungen nicht mehr geäußert und mit wissenschaftlichen Gründen vertreten werden können. Gegebenenfalls stehen alle Hochschulangehörigen gemeinsam in der Pflicht, die Meinungs- und Redefreiheit an der Universität zu schützen und auf diesem Wege Meinungsauseinandersetzungen zu ermöglichen.

Neben der Freiheit von Ideen und Meinungen benötigen wissenschaftliche Diskurse einen grundlegenden Respekt aller Beteiligten gegenüber allen anderen. Nur unter diesen Bedingungen sind wissenschaftliche Diskurse für alle hinreichend offen; und nur unter diesen Bedingungen können diese ihre diskursive Rationalität entfalten. Jede Form von Missachtung, insbesondere jede Form von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, setzt diese konstitutive Bedingung wissenschaftlicher Diskurse außer Kraft. An der Universität stehen alle Hochschulangehörigen in der Pflicht, sich aktiv für ein Klima des gegenseitigen Respekts einzusetzen. Darüber hinaus sind sie gehalten, Missachtungen zurückzuweisen und Respekt auch von denen einzufordern, die ihn vermissen lassen, – und dies auch dann, wenn sie selbst davon nicht betroffen sind. Den grundlegenden Respekt durchsetzen und Missachtung zu diskreditieren, ist Sache aller Universitätsmitglieder in wechselseitiger Solidarität.

Rede- und Meinungsfreiheit ist an einer Universität kein Vorrecht für die Lehrenden; sie gilt gleichermaßen für Studierende und dies auch in Lehrveranstaltungen und Prü-fungen. In ihrem Studium sollen sie angeregt werden, die universitäre Meinungsvielfalt auszuhalten und mit eigenen Meinungen zu vermehren. Sie sollen lernen, Meinungen mit Gründen zu vertreten und die Meinungen anderer von ihren Gründen her zu beurteilen. Auch deshalb sollen Studierende in Lehrveranstaltungen und in Prüfungen eigene und d.h. auch abweichende Meinungen äußern und dafür mit Gründen einstehen. Den von ihren Lehrenden vertretenen Positionen müssen sie widersprechen können, ohne dass diese dies als Angriff auf ihre Rede- und Meinungsfreiheit oder ihre wissenschaftliche Freiheit abwehren dürften. Durch ihre Dozentinnen und Dozenten werden Studierende angehalten, Meinungen mit Gründen zu vertreten, – und werden dafür ausreichenden Freiraum und Unterstützung erfahren. Nicht zulässig ist es hingegen, dass Studierende ihre Dozentinnen und Dozenten hindern, ihre Lehre vollständig zu erbringen und ihre Studierenden anzuhalten, sich mit bestimmten Positionen und Begründungen auseinanderzusetzen. Genauso wenig dürfen Lehrende die durch Amt und Expertise bestehenden Asymmetrien zulasten ihrer Studierenden »ausspielen« und ihren Studierenden den Mut zur eigenen Meinung sowie die Freunde an Meinungs-auseinandersetzungen »austreiben«.

Selbstverständlich haben alle Universitätsmitglieder das Recht, auch außerhalb der Universität eigene Meinungen im vollen Rahmen der verfassungsmäßigen Freiheit zu vertreten. Jedoch sind sie nicht davor geschützt, dass sie mit diesen Meinungsäußerungen innerhalb der Universität auf Resonanz und dann auf Kritik stoßen. Angehörige einer Universität haben sich – im Gegenteil – darauf einzustellen, dass sie für ihre außerhalb der Universität vertretenen Meinungen in der Universität zur Rechenschaft gezogen und dass diese nach wissenschaftlichen Standards beurteilt werden. In diesem Sinne besteht an der Universität Tübingen kein Schonraum für außerhalb der Universität vertretene Meinungen.

Die für eine Universität typischen Freiräume und die Kultur der offenen und freien Diskussion lassen sich ausnutzen und missbrauchen. Alle Universitätsmitglieder sind angehalten, dies im Blick zu haben und etwa bei der Planung von Veranstaltungen auf dem Universitätscampus geeignete Vorkehrungen zu treffen. So sollten nur Gäste an die Universität eingeladen werden, die erwarten lassen, dass sie an einem Diskurs im Sinne dieses Papiers interessiert sind. Strittige Themen sollten nur in solchen Veranstaltungsformaten bearbeitet werden, die eine wissenschaftliche Kontroverse zulassen. Allerdings wird es selbst bei größter Vorsicht dazu kommen können, dass die meinungsfreudige und kontroversaffine Wissenschaftskultur missbraucht und in der Folge die Universität unter öffentliche Kritik gerät. Die Universitätsgemeinschaft wird auf der Basis der in diesem Papier ausgeführten Grundsätze diese Kritik solidarisch »aushalten«.

Die Leitung der Universität und ihrer Gliederungen steht in besonderer Verantwortung, die Rede- und Meinungsfreiheit und die sich daraus für eine Universität ergebende Kultur der Meinungsauseinandersetzungen zu gewährleisten. Sie hat dafür sowohl die notwendigen Freiräume als auch Gelegenheiten und Konstellationen kritischer Auseinandersetzungen zu sichern und sich für eine entsprechende Kultur in Lehrveranstaltungen und Prüfungen einzusetzen. Dagegen obliegt es der Leitung nicht, Hochschulangehörige vor der Konfrontation mit bestimmten Ideen und Meinungen zu schützen, auch wenn ein Teil der Hochschulangehörigen oder sogar die Mehrheit diese für unerwünscht und unangemessen halten. Ebenso wenig ist es Aufgabe der Leitung, strittige Positionen zu beurteilen oder Meinungen gegen Kritik in Schutz zu nehmen. Versuche von außen, die universitäre Meinungsvielfalt zu beschränken und auf die an der Universität geführten Meinungsauseinandersetzungen Einfluss zu nehmen, wird sie abwehren – und wird sich dabei der loyalen Unterstützung der Universitätsgemeinschaft gewiss sein können.

Auch in der Universität findet die Rede- und Meinungsfreiheit ihre Grenze dort, wo die Rede- und Meinungsfreiheit anderer beschränkt wird, andere Grundrechte tangiert werden oder gegen Gesetze verstoßen wird. Dazu gehört unter anderem auch die vom Grundgesetz garantierte Freiheit von Forschung und Lehre. Um diese Grenzen einzuhalten, kann die Leitung der Universität Zeit und Ort von Veranstaltungen regeln und dadurch sicherzustellen, dass sie den normalen Lehr- und Forschungsbetrieb nicht stören. Sie kann für notwendige Meinungsauseinandersetzungen besondere Orte schaffen und dadurch die für Lehre und Forschung notwendigen Veranstaltungen entlasten. Entsprechende Entscheidungen dürfen aber niemals in einer Weise gefällt werden, dass dadurch die Kultur der freien und offenen Diskussion beeinträchtigt oder auch nur in Zweifel gestellt wird.

entstanden aus der Arbeit der Senats-AG,
beschlossen durch den Senat der Universität Tübingen am 11. Februar 2021