Für seine Dissertation „Die Theologie der Befreiung weiterschreiben“ wurde der Theologe Dr. Jan Niklas Collet im Mai mit dem Dr. Leopold Lucas-Preis für Nachwuchswissenschaftler ausgezeichnet. In seiner Arbeit ging es ihm auch um die Suche nach einer befreienden Theologie für den gegenwärtigen europäischen Kontext. Aktuell engagiert sich Collet neben seiner wissenschaftlichen Arbeit beruflich auch im Netzwerk Kirchenasyl in Nordrheinwestfalen.
Herr Collet, herzlichen Glückwunsch zum Dr. Leopold Lucas-Preis für Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler!
Vielen Dank! Der Preis ist eine sehr große Ehre und ein tolles Feedback für meine Doktorarbeit.
Ihre Arbeit untersucht die Befreiungstheologie im Kontext zeitgenössischer feministischer und postkolonialer Diskurse. Können Sie uns an dieses Thema heranführen?
Die Befreiungstheologie ist eine theologische Bewegung, die ihre Wurzeln in Lateinamerika hat. Sie hatte ihre Blüte in den 1970er- und 1980er-Jahren vor dem Hintergrund massiver sozialer Ungleichheiten, Gewalt und des Aufkommens von Militärdiktaturen. Ähnliche Bewegungen gab es auch in der Philosophie, der Pädagogik und den Sozialwissenschaften. In meiner Arbeit befasse ich mich vor allem mit den Werken des Philosophen, Theologen und Priesters Ignacio Ellacuría, einer der prominentesten Figuren der Bewegung. Ich rekonstruiere exemplarisch die Kritik, die an der Befreiungstheologie insgesamt geübt wurde – ihr wurden beispielsweise Indifferenz gegenüber rassifizierten und vergeschlechtlichten Machtverhältnissen vorgeworfen – und überprüfe diese unter Bezugnahme postkolonialer und feministischer Theorien.
Wie trägt Ihre Arbeit dazu bei, gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen?
In meiner Arbeit ging es mir von Anfang an um die Suche nach einer befreienden Theologie für den gegenwärtigen europäischen Kontext. Zum einen impliziert dies, Wissenschaft nicht nur um einer vermeintlich reinen Wissenschaft Willen zu betreiben, sondern die eigene gesellschaftliche Situiertheit und Beteiligung immer mitzudenken. Dazu ist es wichtig, die Verschränkung unterschiedlicher Formen von Unterdrückung, Macht und Diskriminierung zu verstehen. Vielleicht kann meine Arbeit dazu beitragen, ein besseres Verständnis dafür zu entwickeln, wie z. B. ungleiche Nord-Süd-Verhältnisse, Geschlechterordnungen und rassifizierte Machtbeziehungen auch in Europa ineinandergreifen, und die entsprechenden strukturellen Probleme besser zu erkennen und sichtbarer zu machen.
Erzählen Sie uns, wo bzw. woran Sie derzeit arbeiten.
Gerne! Ich bin aktuell in verschiedenen Bereichen tätig: Ich habe eine 50%-Stelle im Netzwerk Kirchenasyl in Nordrheinwestfalen und arbeite zusätzlich noch freiberuflich. Im Netzwerk Kirchenasyl berate ich Geflüchtete, denen die Abschiebung droht, an der Universität Tübingen unterrichte ich Seminare zu Religionskritik und queerer Theologie, zusätzlich gebe ich noch Vorträge und Workshops zu politischer Theologie und rechter Normalisierung.
Wie sieht Ihre Beratung der geflüchteten Menschen aus?
Wir beraten geflüchtete Menschen, denen akut eine Abschiebung droht, und suchen Kirchengemeinden, die ihnen Kirchenasyl gewähren. Seitens der Kirchengemeinde stellt das Kirchenasyl einen Akt des zivilen Ungehorsams dar – die Kirchengemeinde erklärt, dass sie mit der Abschiebung einer oder mehrerer Personen nicht einverstanden ist, da mit erheblichen Gefahren für Leib und Leben gerechnet werden muss. In den meisten Fällen handelt es sich um Dublin-Abschiebungen. Das heißt, dass geflüchtete Menschen in die europäischen Länder abgeschoben werden sollen, in denen sie das erste Mal registriert wurden. Es gibt jedoch eine Reihe Länder, in denen die Bedingungen so schlecht sind, dass eine Abschiebung dorthin unverantwortlich wäre. Das Kirchenasyl ist eine Möglichkeit, um eine Abschiebung in diese Länder zu verhindern und den Betroffenen die Chance auf ein Asylverfahren in Deutschland zu geben.
Wie beeinflusst diese Tätigkeit Ihre Sichtweise auf globale Herausforderungen wie Migration und Flucht?
Ich sehe noch viel deutlicher, dass Gewalt für viele Menschen eine alltägliche Realität ist und dass diese Realität auch das bewusste Ergebnis politischer Entscheidungen ist. Angesichts der anhaltenden Verschärfungstendenzen besteht unsere Aufgabe im Netzwerk Kirchenasyl momentan vor allem darin, eine Praxis des Durchhaltens aufrechtzuerhalten und irgendwie die verbliebenen Infrastrukturen der Solidarität zu stärken.
Wenn Sie die Möglichkeit hätten, mit einer historischen Figur, die für soziale Gerechtigkeit kämpfte, einen Nachmittag zu verbringen. Wen würden Sie wählen und warum?
Ich würde Ernst und Karola Bloch wählen. Ihr Haus diente als Treffpunkt für unorthodoxe marxistische Gesellschaftstheoretikerinnen und -theoretiker sowie Aktivistinnen und Aktivisten aus der damaligen Neuen Linken. Und auch der jüngst verstorbene evangelische Theologe Professor Jürgen Moltmann soll dort ein- und ausgegangen sein. Es wäre spannend, Einblicke in diese Begegnungen im Hause Bloch zu erhalten.
Das Interview führte Rebecca Hahn