Uni-Tübingen

E01: Orde amplissimus. Die Bedrohung der oströmischen Reichselite unter Kaiser Justinian I.

Projektmitarbeiter*innen:
Michael Schilling, M.A.
Doktorand

Fachgebiet: Alte Geschichte

Das Teilprojekt untersucht, welche Auswirkungen Bedrohungen und daraus resultierende re-ordering-Prozesse auf die Ordnung einer historischen sozialen Formation besaßen, die sich wegen der für antike Verhältnisse ausgezeichneten Quellenlage als exemplarisches Untersuchungsobjekt für die Analyse Bedrohter Ordnungen anbietet: der Reichselite des spätrömischen Reiches (4.–6. Jh. n.Chr.). In seiner ersten Phase – der zweiten Förderperiode des SFB – analysierte das Projekt die Folgen einer von außen kommenden existentiellen Bedrohung jener Elite am Beispiel der in Italien ansässigen Teile der Reichselite im 5. Jh.; gefragt wurde, wie sich die soziale und politische Machtstellung jener Elite infolge des Zusammenbruchs der römischen Herrschaft im Westen und der Bedrohung Italiens selbst wandelte und welche Differenzierungsprozesse in der Gruppe dies nach sich zog. Die hier beantragte zweite Phase des Projekts komplettiert diesen Zugriff, indem sie eine Zeit primär innenpolitischer und durch innere Zersetzungsprozesse geprägter Bedrohung der spätrömischen Reichselite als einer sozialen Ordnung in den Blick nimmt, um die zusammengeführten Ergebnisse beider Phasen und ggf. weiterer, von der Forschung bereits anderweitig aufgearbeiteter Fallbeispiele (z.B. der gallorömischen Elite im 5. Jh.) abschließend in einer diachronen Synthese für grundsätzliche Überlegungen zu Verlauf und Prozessen innerhalb Bedrohter Ordnungen nutzen zu können. Aufgrund der direkten Vergleichbarkeit unterschiedlicher Bedrohungen ein und derselben Ordnung sind dafür optimale Voraussetzungen gegeben.

Als Fallbeispiel für die hier beantragte Förderperiode wurde die oströmische Reichselite in der Herrschaftszeit Kaiser Justinians (527-565 n.Chr.) ausgewählt. Eine massive Bedrohungskommunikation mit scharfer Polemik von Seiten dieser Elite gegen den Kaiser, Berichte über Repressalien gegen sie sowie mehrere Revolten und – angebliche – Verschwörungen der Elite zeigen, dass diese Ordnung (oder Teile derselben) sich einer existentiellen Bedrohung ausgesetzt sah. Aus Selbstzeugnissen spricht ein profunder Vertrauensverlust gegenüber dem Monarchen und eine intensive Angst vor dem Verlust der Ressourcen, auf welche die Reichselite ihr Selbstverständnis und ihre Macht gründete: des Zugangs zu Ämtern, der darauf gegründeten Autorität, Ränge und Privilegien, der institutionalisierten politischen Mitsprache. Eine ungewöhnliche Dichte an Zeugnissen der Zeit, in denen diese bedrohte Elite über ihre ideellen Grundlagen und ihr Selbstverständnis reflektiert, bestätigt dies und lässt sich zugleich als ein Schritt zur Mobilisierung und Bewältigung der Bedrohung lesen. 

In der Forschung ist jene Bedrohung der Reichselite unter Justinian stets konstatiert, nie jedoch systematisch untersucht worden. Das Projekt muss daher zunächst klären, worin die Bedrohung dieser sozialen Ordnung konkret bestand, welche Teile der Elite davon betroffen waren und worin ihre Ursache zu suchen ist. Erst dann können das Bewältigungshandeln und die durch Bedrohung und re-ordering ausgelösten Restrukturierungsprozesse in der Gruppe untersucht werden. Aus der Perspektive des SFB-Modells bietet sich dabei eine ganz andere Deutung des Geschehens an als die bislang in der Forschung gängige, simple Opposition von Kaiser und Elite. Arbeitshypothese des Projekts ist, dass die Bedrohung nicht einer kaiserlichen Politik gegen die Reichselite geschuldet, sondern größtenteils unintendierte Nebenfolge von kaiserlichen Maßnahmen mit ganz anders gelagerter Zielsetzung war, die bei der Elite – oder Teilen davon – zu Vertrauensverlust und Existenzängsten führten; zum anderen, dass die Bedrohungskommunikation wesentlich Folge von durch jene Ängste ausgelösten Konflikten innerhalb der Elite war, namentlich der Konkurrenz um Ressourcen wie Ämtern, und der damit einhergehenden Angst vor dem Verlust materieller Vorteile und sozialer Stellung. Auch diese verschärfte Konkurrenz um Ressourcen wäre dann, wie die erwähnte Publizistik, zugleich bereits ein Aspekt der Bewältigungshandelns.

Unabhängig davon, ob sich diese Arbeitshypothesen bestätigen, steht nach Klärung der genannten Sachverhalte dann eine für antike Verhältnisse reich dokumentierte Fallstudie zu Verfügung, um die Prozesse zu analysieren, wie eine Bedrohung die Zusammensetzung und Struktur, die innere Kohäsion sowie die Hierarchien und Interessensallianzen innerhalb einer Gruppe und so die Ordnung selbst veränderten. Auch synchrone Interdependenzen zu Bedrohungen anderer gesellschaftlicher Teilordnungen (etwa der im Projekt F01 verhandelten Monarchie) lassen sich hervorragend beobachten. Insbesondere trägt das Projekt zur Erhellung diachroner Interdependenzen Bedrohter Ordnungen bei, insofern es schon im späteren 5. Jh. zu Spannungen mit den Kaisern, aber auch innerhalb der Elite selbst kam. Es wird zu prüfen sein, inwiefern dies Ordnungsmerkmale der Reichselite unter Justinian sowie ihr Bewältigungshandeln in der Bedrohung strukturierte.