Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 3/2021: Forschung

Das Zusammenleben von Mensch und Fluss 

Wissenschaft meets Kunst: Wie aus einem Forschungsprojekt zum längsten Fluss Zentralasiens eine Ausstellung wurde

Interview mit Jeanne Féaux de la Croix

Seit 2016 untersucht ein internationales Forschungsteam aus Kirgisistan, Usbekistan und Deutschland die Sozial- und Umweltgeschichte des zentralasiatischen Naryn- und Syr-Darya-Flusses. Die Leitung des Forschungsprojektes hat Dr. Jeanne Féaux de la Croix vom Institut für Ethnologie der Universität Tübingen, gefördert wird es von der Volkswagen-Stiftung. Beteiligt sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Bereichen Ethnologie, Politikwissenschaft und Geschichte.

Der Syr Darya – am kirgisischen Oberlauf auch als Naryn bekannt – ist der längste Fluss in Zentralasien und zweitgrößter Zubringer des austrocknenden Aralsees. Seine Wasserverteilung ist ein zentraler Streitpunkt zwischen den flussaufwärts- und flussabwärts gelegenen Republiken. Deshalb will das Projekt auch eine neue Perspektive auf den Naryn-Syr Darya als Forschungsgegenstand eröffnen und dadurch mögliche Auswege aus der schwierigen Konstellation im regionalen Wassermanagement aufzeigen.

Aus dem Forschungsprojekt „Das Zusammenleben von Mensch und Fluss: Umweltgeschichte, soziale Welten und Konfliktbewältigung entlang des Naryn-Syr Darya“ entstand bereits 2019 in der kirgisischen Stadt Naryn eine Ausstellung. Die Idee, diese Ausstellung entlang des Flusses „wandern“ zu lassen, ließ sich jedoch infolge der Corona-Pandemie nicht mehr realisieren. Stattdessen entstand die digitale Ausstellung „Social Life of the Naryn-Syr Darya Rivers“, die im Juni 2021 eröffnet wurde und aus Text-, Audio- und Videokunstwerken besteht. 

Die für die Ausstellung ausgewählten Fakten und Kenntnisse wurden durch Konferenzen, Workshops und andere Veranstaltungen in Taschkent (2016), Shamaldy-Sai (2018), Kazaly (2018) und Naryn (2019) zusammengetragen. Die Beteiligten aus Wissenschaft und Kunst fanden Metaphern, visuelle und räumliche Lösungen zur Darstellung von Forschungsbeobachtungen, die verschiedene Aspekte des sozialen Lebens am Syr-Darya-Fluss aufzeigen. Die Ausstellung ist in drei Erzählstränge aufgeteilt: menschliche, nicht-menschliche und alternative Flussgeschichten.

In der Installation "Flows" haben beispielsweise die kirgisischen Forscherinnen und Künstlerinnen Gulzat Baialieva, Dinara Kanybek Kyzy und Oksana Kapishnikova die Chronik des Dorfes Shamaldy-Say in Form einer zyklischen Struktur dargestellt, die den kontinuierlichen Fluss von Zeit, Energie, Geld und Menschen symbolisiert. Die Bedingungen und Aspekte der Bewegung ändern sich, aber der Fluss selbst hört nicht auf zu fließen. 

Flüsse sind nicht nur eine Ressource für Landwirtschaft und Kommunikation, sondern auch natürliche Barrieren, die die Menschen mit Brücken überwinden. Der Bau und die Instandhaltung von Brücken gehören zu den wichtigsten Formen, wie Menschen mit dem Fluss interagieren. In der "Untold Story of Bridges" präsentiert Jeanne Féaux de la Croix kommentierte Fotos – aus dem Archiv und auch aktuelle – von verschiedenen Brücken über den Fluss Naryn-Syr Darya. 

Die riesige Installation „Baiterek" aus Schilf von Aibek Samakov, Zulaika Esentaeva und Narynbek Kazybekov ist eine ironische Darstellung des Antagonismus zwischen den Lebensbedingungen der einfachen Leute im Syr-Darya-Delta im Westen Kasachstans, die Schilf sammeln und als Baumaterial verwenden, und den Modernisierungsbestrebungen der kasachischen Regierung.

Die Collagen-Serie "Access Denied!" wurde inspiriert von der Forscherin Mokhira Suyarkulova, deren Erzählungen immer wieder darauf hinweisen, dass Frauen in Khujand in der Öffentlichkeit kaum mit dem Fluss interagieren: Sie baden nicht, liegen nicht am Strand und angeln auch nicht – im Gegensatz zu den Männern. In den bunten Collagen wird den Frauen scheinbar der Fluss „zurückgegeben“, wenn auch nur symbolisch und in der Phantasie.

Die US-Hydrologin Alice Hill und der Kulturanthropologe Toma Serban Peiu entwickelten die Animation "Virtual Water" (2016). Die Animation besteht aus einer Karte, die die Bewegung des Wassers im Gebiet um den Aralsee zeigt: Von 1960 bis 2016 wurde der See in großem Maße für landwirtschaftliche Zwecke genutzt, was zu einer Austrocknung seines Beckens führte. Hill und Peiu konzentrierten sich in ihrer Animation auf die Bewässerung von Baumwolle, da diese ein enorm wasserintensives und zugleich allgegenwärtiges Exportprodukt ist. Die 'Virtualität' des Wassers besteht darin, dass das Produkt Baumwolle, das unter Verwendung von Wasser hergestellt wird, außerhalb der Region verkauft wird, dadurch wird Wasser quasi über dieses Produkt exportiert. Die Idee ist, die 'Migration' von Wasser zu beobachten und zu sehen, ob diese Zahlen die menschliche Migration widerspiegeln.

Maximilian von Platen

Ausstellung „Social Life of the Naryn-Syr Darya Rivers“

Die Ausstellung „Social Life of the Naryn-Syr Darya Rivers“ wird von der Volkswagen-Stiftung und der "Soros Open Society"-Stiftung unterstützt . Die Webseite der virtuellen Ausstellung gibt es in sechs Sprachen: Englisch, Russisch, Kasachisch, Kirgisisch, Usbekisch und Tadschikisch. Link zur Ausstellungshomepage: http://en.syr-darya.org/   

Interview mit Jeanne Féaux de la Croix

Warum ist die Flusslandschaft des Naryn und Syr Darya für Sie als Ethnologin so interessant?

In seinem 3000 Kilometer langen Flusslauf spiegelt sich praktische jede soziale und ökologische 'Nische' in Zentralasien wider: von Gletschern über sowjetische Städte für Staudammarbeiter bis hin zu jahrtausendealten, fruchtbaren Oasen und Halbwüsten.

Dieser Fluss ist eine Lebensader für große Teile der Bevölkerung dieser Region, und doch wird ihm nicht die gleiche symbolische Rolle zugemessen wie beispielsweise dem Rhein.

Meist wird von diesem Fluss nur als "x Kubik-Kilometer Wasser" gesprochen, um die sich die vier Anrainer-Republiken streiten. Dabei ist eine Flusslandschaft voller Lebewesen und Infrastruktur wie Staudämmen und Brücken viel mehr als ein neutrales Wasservolumen, das man beliebig umwuchten kann.

Was sind die gravierendsten sozialen und ökologischen Veränderungen, die Sie in dieser Region beobachten konnten?

Der großangelegte sowjetische Versuch, dieses Wasservolumen zu 100 Prozent für die Landwirtschaft zu nutzen, hat am Aralsee zu einer der größten menschengemachten Umweltkatastrophen des 20. Jahrhunderts geführt. Mitte des letzten Jahrhunderts galt auch im Westen, dass jede Herausforderung technisch lösbar sei. Die Lösung vieler negativer 'Nebeneffekte' – wie etwa ein austrocknendes Meer – wurden mit dieser Technik-Gläubigkeit in die Zukunft verlagert. Aber immer noch leiden die Menschen in dieser Region an dem Aussterben einer ganzen Fischereiflotte und an schweren Schadstoffbelastungen. Die einzigartigen Tugai-Wälder entlang dieser Flüsse sind fast völlig verschwunden, und durch die Zerstörung dieses Lebensraums sind seit den 70er-Jahren der Turan-Tiger und viele andere Arten ausgestorben.

Ohne diese Wälder und Sümpfe als natürliche 'Klärwerke' und Wasserspeicher müssen auch die Anwohner an den Flussoberläufen darum kämpfen, ihre Felder bewässern zu können. Auch eine Garantie für sauberes Trinkwasser gibt es nicht. Die Gletscher des Tien-Shan-Gebirges, aus denen sich der Naryn und Syr Darya speisen, sind in den letzten Jahrzehnten stark geschrumpft. Diese fehlenden Speicher und 'Kühlelemente' werden den Wasserkreislauf der Region künftig wahrscheinlich noch stärker belasten.

Inwieweit kann Wissenschaft Lösungsmodelle für politische Fragen/Konflikte anbieten?

Als Team sahen wir es vor allem als unsere Aufgabe, die menschliche und landschaftliche Vielgestaltigkeit dieses Flusses zu erarbeiten.

Wenn eine Flusslandschaft neu gesehen wird, dann macht das auch deren Bewohner – menschliche wie auch nicht-menschliche – neu sichtbar. Dieser politisch engagierte Zugang wirft neue spannende Fragen auf: Was ist eigentlich ein Fluss? Wen oder was zähle ich zu einer Flusslandschaft dazu? Diese Frage beantworten Wissenschaften wie Ethnologie, Geografie oder Ökologie auf ganz unterschiedliche Art. Die Definition wird dabei immer auch an bestimmte Zwecke und sozio-kulturelle Lebensrealitäten gebunden sein.

Die großen ökologischen und politischen Herausforderungen unserer Zeit können nur mit einem neuen Verständnis unserer gegenseitigen Abhängigkeiten gelöst werden. In einer Region voller Ressourcen-, Sprach- und Grenzkonflikte verdeutlicht unsere Kunstausstellung zugleich, wieviel die Menschen im Syr-Darya-Delta mit Menschen im Hochgebirge gemein haben. 

Während Einigungsversuche der Wasserdiplomatie auf regionaler wie nationaler Ebene seit Jahrzehnten eher bescheidene Ergebnisse bescheren, setzen wir mit unserer Ausstellung in fünf lokalen Sprachen dagegen auf eine Art 'Graswurzel-Diplomatie'.

Wissenschaft und Kunst: Wo sehen Sie Berührungspunkte, wo Gegensätze?

Sowohl Wissenschaft als auch Kunst verstehen sich meist als eine Art, die Welt zu erkunden und ihr Wesen zu erfassen. Die Anerkennung und Kriterien der 'Qualität' in diesen Bereichen sind natürlich ganz unterschiedliche. Interessanterweise stehen aber sowohl in der Wissenschaft wie auch in der Kunst bahnbrechende Ideen im Vordergrund, wenn es um die Kategorie der ‚Exzellenz’ geht. 

Es ist für mich jedes Mal ein hochspannender Prozess, mit Künstlerinnen und Künstlern zusammenzuarbeiten: Ich bekomme dabei nie-erahnte Fragen gestellt, werde herausgefordert, meine Praxis zu reflektieren und sicheres Wissen zu hinterfragen. Genau das wünschen wir uns ja auch genauso von einem Konferenzbesuch.