Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 4/2023: Forschung

Sechs neue Starting Grants des Europäischen Forschungsrats für Tübingen

Zwei Wissenschaftlerinnen und vier Wissenschaftler der Universität und des Universitätsklinikums werben hochdotierte Förderung ein

Gleich sechs Mal konnten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität und des Universitätsklinikums Tübingen in der aktuellen Vergaberunde des Europäischen Forschungsrats (ERC) einen sogenannten Starting Grant einwerben, darunter sind je ein Projekt in der Sprachwissenschaft, der Volkswirtschaftslehre und der Naturwissenschaftlichen Archäologie sowie drei Projekte in der Medizin. „Dies ist ein herausragender Erfolg für die Universität und den gesamten Forschungsstandort Tübingen“, sagte die Rektorin der Universität, Professorin Karla Pollmann. Nie zuvor habe Tübingen in einer Auswahlrunde derart viele ERC-Grants gewinnen können, die mit ihrer hochdotierten Projektförderung zu den prestigeträchtigsten Förderformaten weltweit zählen.

Die sechs Projekte werden jeweils über einen Zeitraum von fünf Jahren mit insgesamt bis zu 1,5 Millionen Euro, in der Medizin bis zu zwei Millionen Euro gefördert. Mit den Starting Grants stattet der ERC herausragende junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit zusätzlichen Mitteln in ihrer Forschungskarriere aus. „Besonders erfreut bin ich, dass die geförderten Forscherinnen und Forscher aus vier verschiedenen Fakultäten kommen“, sagte Pollmann: „Dies unterstreicht wieder einmal, dass Spitzenforschung und Exzellenz an der Universität Tübingen in einer großen Bandbreite von Themen stattfinden.“

Die neuen ERC Starting Grants

Dr. Christian Bentz, Seminar für Sprachwissenschaft – Die Anfänge der visuellen Kodierung von Informationen

Projekt „EVINE” – Die Evolution der visuellen Kodierung von Informationen

Bevor die Schrift erfunden wurde, konnte Sprache nicht aufbewahrt werden. Christian Bentz geht jedoch davon aus, dass sich bereits zuvor eine wichtige Komponente der menschlichen Sprachfähigkeit entwickelt hatte, die Fähigkeit, Symbole zu kombinieren. In seinem Projekt „The Evolution of Visual Information Encoding“ (EVINE) – Die Evolution der visuellen Kodierung von Informationen – will er erforschen, ob Spuren dieser Fähigkeit erhalten geblieben sind. Dafür nutzt er statistische Methoden in der quantitativen Linguistik.

In der Altsteinzeit besiedelten Menschen von Afrika aus viele weitere Gebiete der Erde. „Auf ihrem Weg haben sie bearbeitete Gegenstände hinterlassen, auch Artefakte genannt, die ein Fenster in ihre Gedankenwelt öffnen“, sagt Bentz. Einige dieser Artefakte tragen frühe Beispiele der visuellen Informationskodierung: geometrische Muster. Von den Neandertalern sind solche Belege kaum bekannt. Sie tauchten erst in der Mittelsteinzeit Afrikas in Verbindung mit der heute noch lebenden Menschenform, dem Homo sapiens, auf.

Als diese Menschen in der späten Altsteinzeit nach Mitteleuropa einwanderten, nutzten sie bereits Steine, Perlen, Knochenfragmente und Figurinen als Ausdrucksform und Informationsträger. Beispiele finden sich in der Eiszeitkunst aus den Schwäbischen Höhlen. „Diese Alltagsgegenstände sind vielfach mit geometrischen Zeichen versehen. Wie stark verbreitet sie waren, wird bei heutigen Sammlungen im großen Stil deutlich“, sagt Bentz. Sicherlich könnte manches Muster aus ästhetischen Gründen entstanden sein. „Das schließt jedoch die Kodierung von Informationen nicht aus“, erklärt der Wissenschaftler. Er will den Informationsgehalt solch geometrischer Zeichen auf Artefakten objektiv messen, unabhängig von der Bedeutung, welche die Menschen darin gesehen haben könnten. So möchte er belegen, dass diese Muster von einer echten Schrift klar zu unterscheiden sind. Außerdem will er mehr darüber erfahren, ob es in der Entwicklung der Zeichen in der späten Altsteinzeit vor rund 35.000 bis 15.000 Jahren erkennbare Übergänge gab – rund 10.000 Jahre bevor Menschen die ersten Schriften erfanden.

Kontakt:

Dr. Christian Bentz
Philosophische Fakultät – Seminar für Sprachwissenschaft
christian.bentzspam prevention@uni-tuebingen.de 

Dr. Katrin Franke, Forschungsinstitut für Augenheilkunde – Vom visuellen Reiz zum Verhalten

Projekt: „Eye to Action“ – Die Erforschung der Verarbeitung visueller Informationen von der Netzhaut bis zum Verhalten

Für ihr Projekt „Tracing Visual Computations from the Retina to Behavior” (Eye to Action) – Erforschung der Verarbeitung visueller Informationen von der Netzhaut bis zum Verhalten – erhält Katrin Franke eine Förderung des ERC von rund 1,8 Millionen Euro über einen Zeitraum von fünf Jahren. Sie hat den ERC Starting Grant am Universitätsklinikum und der Medizinischen Fakultät Tübingen eingeworben und ist derzeit als Research Assistant Professor am Baylor College of Medicine, Houston (USA) tätig.

Visuelle Reize prasseln permanent auf uns ein. Unser Gehirn hat es mit einer gigantischen Menge an Informationen zu tun, die selektiert und verarbeitet werden müssen. Bereits in der Netzhaut, dem ersten Verarbeitungszentrum des visuellen Systems, extrahieren neuronale Schaltkreise zahlreiche Merkmale aus der Umgebung und bilden bis zu 40 Kanäle zum Gehirn. Bisher ist jedoch eines der Grundprinzipien des Sehens grundsätzlich unklar, nämlich wie das Gehirn diese vielfältigen Kanäle des Auges verarbeitet und verhaltensrelevante Informationen identifiziert.

Hier setzt Katrin Frankes Forschung an: Ihr Ziel ist es, Antworten auf das Rätsel zu liefern, welche Art von Berechnungen das Gehirn durchführt, um visuelles Verhalten zu ermöglichen. Im weiteren Sinne ist ein tiefes Verständnis des gesunden Sehsystems der Schlüssel zur Entwicklung neuer Behandlungsstrategien für degenerative Erkrankungen des visuellen Systems. Beispielsweise müssen Computerchips zur Wiederherstellung des Sehvermögens idealerweise den physiologischen neuronalen Code wiederherstellen. Diesen zu entschlüsseln, ist eines der Forschungsziele.

Kontakt:

Dr. Katrin Franke
Medizinische Fakultät – Forschungsinstitut für Augenheilkunde
Baylor College of Medicine
katrin.frankespam prevention@bcm.edu 

Professor Dr. Ralph Lütticke, Volkswirtschaftslehre – Ungleichheit als neue Größe in makroökonomischen Modellen

Projekt „AIRMAC“ - Aggregierte und idiosynkratische Risiken in der Makroökonomie

Bisher wurden in vielen wirtschaftswissenschaftlichen Modellen etwa bei der Untersuchung von Rezessionen Faktoren wie Unternehmen oder Privathaushalte aggregiert verwendet, um sie handhabbar zu machen. In seinem ERC-Projekt „Aggregate and Idiosyncratic Risk in Macroeconomics” (AIRMAC) – Aggregierte und idiosynkratische Risiken in der Makroökonomie – will Ralph Lütticke die Modelle ausdifferenzieren. „Nimmt man für die privaten Haushalte einen Busfahrer und einen Banker in die Rechnung auf, wird deutlich, dass Ungleichheit eine Rolle spielt. Diese Berufsgruppen haben nicht nur unterschiedliche Einkommen, sondern werden auch von Rezessionen unterschiedlich getroffen“, erklärt er

Häufig setzten in der Vergangenheit mangelnde Rechenkapazitäten Grenzen. „In den vergangenen zehn Jahren sind bereits Modelle entstanden, in die Ungleichheit einbezogen wurde“, berichtet er. „Zunächst wurden aber die Haushalte so behandelt, als würden sie etwa eine anbrechende Rezession gar nicht mitbekommen.“ Lütticke will in neuen Modellen abbilden, wie aggregierte Risiken individuelle Entscheidungen beeinflussen.

Die dafür nötigen Algorithmen will Lütticke als einen Werkzeugkasten entwickeln, der auch der Politik für die Berechnung praktischer Fragen aus der Geld- oder Fiskalpolitik zur Verfügung steht, um etwa die Auswirkungen von Transferzahlungen auf die Wirtschaftskreisläufe zu prüfen. Die neuen Computeralgorithmen sollen gerade die Perspektive eines einzelnen Haushalts auf die Wirtschaft insgesamt zulassen, um zum Beispiel zu klären, wer arbeitslos werden könnte oder wessen Hauspreise stärker schwanken, und wie dies Entscheidungen am Arbeits- oder Immobilienmarkt beeinflusst. Bei der Entwicklung der grundsätzlichen Methodik mit der ERC-Förderung legt Lütticke Daten von Bürgern aus den USA zugrunde, die eine der einflussreichsten Ökonomien der Welt darstellen, sowie aus Dänemark, wo der Staat zahlreiche Daten der Bürger erhebt.

Kontakt:
Prof. Dr. Ralph Lütticke
Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät – Volkswirtschaftslehre, insb. Wirtschaftstheorie
ralph.luettickespam prevention@uni-tuebingen.de

Dr. Lukas Mager, Medizinische Klinik, Innere Medizin I – An der Schnittstelle von Mikrobiom- und Krebsforschung

Projekt: „SOAR” - Die systematische Dreiecksvermessung von Pathobiont-Wirt-Wechselwirkungen

Lukas Magers Projekt „Systematic Triangulation of Pathobiont-Host-Interactions“ (SOAR) – Systematische Dreiecksvermessung von Pathobiont-Wirt-Wechselwirkungen – beschäftigt sich mit der Erforschung von entzündlichen Darmerkrankungen und Darmkrebs. Dafür erhält er über einen Zeitraum von fünf Jahren eine Förderung des ERC in Höhe von rund zwei Millionen Euro. Das Forschungsprojekt startet im März 2024.
Chronische Darmerkrankungen sowie Krebs sind häufig mit genetischen Faktoren, aber auch dem Mangel an mikrobieller Vielfalt im Darm eng verbunden. Das Mikrobiom, also die Gesamtheit aller Mikroorganismen in unserem Körper, spielt dabei eine entscheidende Rolle. Gewisse Bakterien, sogenannte Pathobionten, können die Entstehung von Krankheiten begünstigen oder die Wirksamkeit von Therapien schmälern. Bislang ist noch wenig über solch krankheitsrelevante Bakterien sowie deren Wechselwirkung mit genetischen Risikofaktoren von Betroffenen bekannt.

Lukas Magers Ziel ist es, Pathobionten, zu identifizieren und deren Interaktion mit genetischen Risikofaktoren zu analysieren. Mithilfe von maschinellem Lernen will er gemeinsam mit seiner Arbeitsgruppe Übereinstimmungen zwischen genetischem Risiko und Pathobionten finden, welche die Krankheitsentwicklung fördern. Schlussendlich können die gewonnenen Erkenntnisse zu einem späteren Zeitpunkt dabei helfen, Bakterien im Rahmen einer Therapie von entzündlichen Darmerkrankungen und Darmkrebs zu verwenden.

Die Forschung von Lukas Mager und seiner Max-Eder-Nachwuchsgruppe setzt an der Schnitt-stelle zwischen den Bereichen Mikrobiom und Krebs an. Er gehört zwei Tübinger Exzellenzclustern an, die sich einerseits mit der Mikrobiomforschung (Controlling Microbes to Fight Infection – CMFI) und andererseits mit der Krebsforschung (Image-Guided and Functionally Instructed Tumor Therapies – iFIT) auseinandersetzen. Darüber hinaus ist er mit seinem Labor im neuen M3 Forschungszentrum der Medizinischen Fakultät beheimatet, das drei bislang getrennte Themenfelder synergistisch vereint: die Malignom-, Metabolom- und Mikrobiomforschung.

Kontakt:
Dr. Lukas Mager
Medizinische Fakultät – Medizinische Klinik, Innere Medizin I
Exzellenzcluster CMFI und iFIT
lukas.mager@med.uni-tuebingen.de

Professor Dr. Christian Schürch, Institut für Pathologie und Neuropathologie – Effizienz der CAR-T-Zelltherapie bei Lymphdrüsenkrebs

Projekt „CAR-TIME – Wie das Immunmikromilieu des Tumors die Effizienz von CAR-T-Zellen beeinflusst

Christian Schürchs Projekt „Drivers and Brakes of CAR T Cell Efficacy Determined by the Tumor Immune Microenvironment“ (CAR-TIME) – Wie das Immunmikromilieu des Tumors die Effizienz von CAR-T-Zellen beeinflusst – wird vom ERC mit insgesamt rund 1,5 Millionen Euro über einen Zeitraum von fünf Jahren gefördert. Von Januar 2024 an wird er damit die Immuntherapie mit CAR-T-Zellen bei Lymphdrüsenkrebs erforschen.

Immuntherapien mit genetisch modifizierten T-Zellen, sogenannten CAR-T-Zellen, werden künftig eine immer größere Rolle in der Behandlung von Krebs spielen. So zeigt die Therapie bei der häufigsten Art des Lymphdrüsenkrebses, dem diffus großzelligen B-Zell-Lymphom, vielversprechende Ansätze. Leider profitieren jedoch nicht alle Patientinnen und Patienten von der Behandlung. Zudem handelt es sich um eine äußerst kostspielige Therapie, und es kann unter Umständen zu schwerwiegenden Nebenwirkungen kommen. Deshalb ist es umso wichtiger, vorab herauszufinden, welche Patientinnen und Patienten für die Therapie in Frage kommen, um so den Behandlungserfolg zu maximieren, wertvolle Zeit zu sparen und Komplikationen zu vermeiden.

Christian Schürch und sein Team wollen das Rätsel lösen, warum die Therapie mit CAR-T-Zellen nicht gleichermaßen erfolgreich bei allen Patientinnen und Patienten anschlägt. Sie gehen der Vermutung nach, dass das Tumormikromilieu, also das unmittelbare Umfeld eines bösartigen Tumors, von Betroffenen, die auf eine CAR-T-Zelltherapie ansprechen, grundverschieden ist zu denjenigen, bei denen die Therapie keinen Erfolg zeitigt. Durch die umfassende Analyse der Interaktion von Mikromilieu und CAR-T-Zellen will Schürch neue Ansatzpunkte für den Therapieerfolg identifizieren und mögliche Kombinationsimmuntherapien entwickeln.

Kontakt:
Prof. Dr. Christian Schürch
Medizinische Fakultät – Institut für Pathologie und Neuropathologie
christian.schuerchspam prevention@med.uni-tuebingen.de

Dr. Maria Spyrou, Institut für Naturwissenschaftliche Archäologie – Einfluss von Epidemien auf soziokulturelle Umbrüche in der Bronzezeit

Projekt: „PROTOPEST“ - Erforschung des Einflusses von Epidemien auf soziokulturelle Umbrüche in der Bronzezeit

Vor 4.000 bis 3.000 Jahren gab es große soziokulturelle Umbrüche in den prähistorischen menschlichen Gesellschaften, das ist durch archäologische Funde aus Europa, dem Nahen Osten und Asien belegt. Bisher wurden vor allem Veränderungen von Umwelt oder Wirtschaft, Kriege oder Wande-rungsbewegungen der Menschen als Motor solcher Entwicklungen gesehen. Obwohl es Hinweise auf Epidemien in dieser Zeit gibt, wurden deren Ursachen und Bedeutung kaum Beachtung geschenkt. In ihrem Projekt „Infectious disease outbreaks as contributors to socio-cultural transformations in the 2nd millennium BCE” (PROTOPEST) will Maria Spyrou den Einfluss des Ausbruchs von Infektionskrankheiten auf Umwälzungen erforschen und so dieser hochdynamischen Periode unserer Geschichte eine neue Dimension hinzufügen.

Die Wissenschaftlerin setzt bei alter DNA an: Menschliche Skelettteile enthalten nicht nur die genetische Information der Menschen selbst, sondern auch die aller Krankheitserreger, die sie bei ihrem Tod in sich trugen. „Über einen Abgleich dieser DNA-Sequenzen mit Informationen aus öffentlichen Datenbanken können wir Spuren zahlreicher Krankheitserreger identifizieren, deren Genom, Evolution und Übertragung untersuchen“, erklärt Spyrou. Die Fortschritte sowohl in der Analyse großer Mengen genetischer Daten wie auch die Gewinnung der DNA aus sehr alten Knochen machten das Projekt möglich.

Mehr als 600 menschliche Skelette sollen untersucht werden wie auch die Überreste von Tieren, die in den menschlichen Gemeinschaften lebten. „Wie bei heutigen pandemischen Viren und bei historischen Pandemien dienten Tiere verschiedenen Krankheitserregern als Reservoir. Diese wurden immer wieder auf Menschen übertragen“, sagt die Wissenschaftlerin.

Maria Spyrou will archäologische, osteologische und genetische Daten vor allem aus der Mittleren und Späten Bronzezeit über den großen geografischen Bereich von Europa bis Asien gewinnen. Ihr Ziel ist es, das Wechselspiel zwischen Infektionskrankheiten und menschlichen Gesellschaften besser zu verstehen. Sie will erforschen, wie Krankheitserreger auftraten und sich verbreiteten und wie prähistorische Gemeinschaften darauf reagierten. Das soll zu einer umfassenden Darstellung eines Zeitraums in unserer Vergangenheit beitragen, als kaum schriftliche Aufzeichnungen gemacht wurden.

Kontakt:
Dr. Maria Spyrou
Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät – Institut für Naturwissenschaftliche Archäologie
maria.spyrouspam prevention@ifu.uni-tuebingen.de 

Antje Karbe