Uni-Tübingen

Projektbereich C: Ordnungszersetzung

Beschreibung

Einleitung

Der Projektbereich C thematisiert Bedrohungen, die aus den Ordnungen selbst hervorgehen, bei denen die Etablierung einer Bedrohungskommunikation jedoch erst allmählich erfolgt. Unter dem Arbeitstitel „Ordnungszersetzung“ sind Projekte zusammengeführt, die sich mit Phasen der Zuspitzung innerhalb längerer Prozesse des Wandels oder der Auflösung politisch-sozialer Ordnungen befassen.

Es handelt sich um die Teilprojekte:

C01: Oströmisches Reich

C02: Dynastische Brüche

C03: Amerikanische Rassenbeziehungen

C05: Politische Gewalt

C07: Apokalyptik

Die theoretisch-methodische Reflexion des Projektbereichs hat sich in den vergangenen Monaten auf folgende zentrale Begriffe der SFB-Konzeption konzentriert:

 

Begriffsbestimmung: Ordnung

Den Teilprojekten im Bereich C liegt folgende Ordnungsdefinition zugrunde: „Eine Ordnung im Sinne des SFB ist ein Gefüge von Elementen, die in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen und soziale Gruppen oder ganze Gesellschaften strukturieren.“ Bei der Anwendung dieser Definition auf die Einzelprojekte ergaben sich zwei Vorstellungen von Ordnung, die sich zunächst als gegensätzlich dargestellt haben. Einer akteurszentrierten steht eine überpersonale Perspektive gegenüber, die ihr Augenmerk vornehmlich auf Strukturen legt. Dies korrespondiert mit weiteren scheinbaren Gegensätzen, wie „Innen“ und „Außen“ sowie kürzerer und längerer Bedrohung (s.u.).

Diese Begriffspaare stellen jedoch keinen Antagonismus dar, sondern sind zwei Seiten derselben Medaille. Um das in der Ordnungsdefinition angeführte Verhältnis von Elementen genauer fassen zu können und um diese vermeintliche Dichotomie zu überwinden, muss eine Perspektive eingenommen werden, die beide Vorstellungen – die personale wie die überpersonale – gleichermaßen berücksichtigt.

So verdeutlicht z.B. im Projekt C03 der Fall des amerikanischen Bürgerrechtlers Bayard Rustin diese beiden Perspektiven. Eine rein auf seine Person bezogene Sichtweise lässt größere Strukturen, wie etwa die der rassistisch geprägten Machtordnung, außer Acht. Rustin wird aus diesem Blickwinkel lediglich als Einzelschicksal begriffen, dessen Persönlichkeit für seine Ausgrenzung verantwortlich ist. Betrachtet man hingegen nur die größeren Strukturen, denen Rassismus, Homophobie und ähnliche Formen von Diskriminierung zugrunde liegen, erscheint eine Person wie Rustin als eine derart irrelevante Außenseiterfigur, dass sein Einzelschicksal keinen nennenswerten Untersuchungsgegenstand darstellen würde.

Bei akuten dynastischen Bedrohungssituationen, die Teilprojekt C02 untersucht, reicht der Blick auf das jeweils individuelle Handeln der Akteure ebenfalls nicht aus. Vielmehr müssen auch die Strukturen, in denen sie sich bewegten, und die strukturprägenden Denkmuster berücksichtigt werden, insbesondere langfristige Vorstellungen von Freundschaft, Verwandtschaft und Dynastie.

„Innen“ und „Außen“

Der Bereich C legt sein Augenmerk auf Bedrohungen, die aus dem Inneren der Ordnung kommen. Ob die Bedrohung tatsächlich ausschließlich von innen kommt, ist jedoch keineswegs eindeutig zu beantworten. Der Vergleich der Teilprojekte hat ergeben, dass die Antwort auf die Frage, ob die Ordnung von innen oder außen bedroht wird, von der jeweils zugrunde gelegten Ordnungsdefinition bestimmt wird. Auch Fremd- und Eigenwahrnehmung spielen eine wichtige Rolle; deshalb scheint eine klare Abgrenzung von innen und außen oft weder möglich noch sinnvoll. Im Falle von C03 beispielsweise definierten die Vertreter der weißen Rassenordnung „außen“ propagandistisch je nach Bedarf. So sahen white supremacists schwarze Bürgerrechtler zuweilen als von außen geschickte Verschwörer. Ähnliches beobachtet Projekt C05 in der Untersuchung zum ruandischen Genozid: Das extremistische Hutu-Regime stellte die Tutsi-dominierte Rwandan Patrotic Front (RPF) als ausländisches (ugandisches) Komplott zur Machtübernahme und Unterdrückung der Hutu dar. Die Vertreter der RPF selbst hingegen verstanden sich, trotz ihrer jahrzehntelangen Exilierung, als Ruander und präsentierten sich als multi-ethnische Koalition zur Befreiung und Demokratisierung des Landes.

„Ordnungszersetzung“

Der Begriff der „Ordnungszersetzung“ ist in der Forschung bisher nicht etabliert. Eine historische Betrachtung der Verwendung des Begriffs „Zersetzung“ in Wissenschaft und Allgemeinsprache ruft jedoch Zweifel daran hervor, dass dieser wertfrei gebraucht werden kann. Positiv für eine Übertragung des Begriffs „Zersetzung“ auf die Teilprojekte des Bereichs C dürfte sein, dass er Zerlegungsprozesse beschreibt, die sowohl von außen als auch von innen angeregt werden können. Außerdem steht er für langfristige Veränderungsprozesse. Problematisch erscheint dieser Begriff allerdings wegen der negativen Assoziationen, die er aufgrund seiner Geschichte weckt: Die Nationalsozialisten verwendeten ihn zum einen als militärrechtlichen Straftatbestand der „Zersetzung der Wehrkraft“, zum anderen als antijüdischen Kampfbegriff. Dem DDR-Regime hingegen galt „Zersetzung“ als positiv bewertete Strategie gegen Oppositionelle. Daneben stehen ältere, weniger aufgeladene Bedeutungen, etwa aus der Chemie und Biologie. Hier bezeichnet der Begriff einen Prozess, der die Zerlegung chemischer Verbindungen in kleinere Elemente beschreibt. Die Zersetzungs-Metapher aus den Naturwissenschaften ist insofern problematisch, als sie eine naturgesetzliche Zwangsläufigkeit von Geschehnissen suggeriert, die so nicht unbedingt eintreffen müssen.

Wertfrei gedacht, könnte der Begriff dennoch dazu dienen, vielfältige Veränderungsprozesse abzubilden. Alternative Begrifflichkeiten, wie die der „Zerfaserung“, konnten zudem nicht überzeugen, weshalb der Projektbereich C bislang am Begriff der „Ordnungszersetzung“ festgehalten hat.

Bedrohungskommunikation

Eines der entscheidenden Kennzeichen des Projektbereichs C ist, dass die Bedrohung nicht unmittelbar für alle Zeitgenossen erkennbar sein muss. Daher wird Bedrohungskommunikation erst allmählich durch Warngemeinschaften etabliert. Bei einigen Teilprojekten, wie im Falle der amerikanischen Rassenbeziehungen (C03), ist die Etablierung dieser Kommunikation über die Bedrohung gut nachvollziehbar. Besonders die Teilprojekte C01 und C02 haben in dieser Hinsicht jedoch ein Quellenproblem. Zumindest bislang sind nur wenige Zeugnisse direkter Kommunikation der Akteure über eine akute Bedrohung bekannt. Mit Sicherheit wird ein Großteil dieser Kommunikation mündlich stattgefunden haben.

Bei der schriftlichen Überlieferung ist Folgendes zu unterscheiden: Erstens konnten in der Situation der Bedrohung Warnungen und direkte Appelle explizit ausgesprochen werden, die in der unmittelbaren Bedrohungssituation eine Reflexion über die Bedrohung verdeutlichen. Im Gegenzug lassen sich auch Quellen finden, in denen die Abwesenheit der Bedrohung thematisiert wird. Zweitens kann die Entstehung von Quellen beobachtet werden, die nur implizit die Existenz einer Bedrohungssituation anzeigen. Diese Quellen sind selbst schon dem Bewältigungshandeln zuzuordnen. Auch wird die Kommunikation über die untersuchte Bedrohung oft durch den Verweis auf andere Bedrohungen überlagert. Drittens gibt es solche Quellen, die erst nachträglich, im Wissen um Verlauf und Herausbildung einer neuen Ordnung, entstanden sind. Besonders die Teilprojekte C01 und C02 sind auf diese Quellen angewiesen.

Daher ist eine differenzierte Quellenkritik und Interpretation erforderlich. Eine Beschränkung auf die explizite Bedrohungskommunikation würde eine umfassende Betrachtung der Fallbeispiele unmöglich machen. Zugleich ist darauf zu achten, dass die Quellen nicht im Hinblick auf die untersuchte bedrohte Ordnung bzw. die Bedrohungskommunikation überinterpretiert werden. Daher muss der theoretische Überbau des Projektbereichs C auch ein quellenkritisches Element enthalten.

Beim Austausch zwischen den verschiedenen Disziplinen ist zudem deutlich geworden, dass der Begriff „Kommunikation“ in diesem Zusammenhang noch näher bestimmt werden sollte. Er wird bisher weitgehend im Sinne des Redens bzw. Schreibens über die Bedrohung und in deutlicher Abgrenzung vom Bewältigungshandeln verwendet. Gerade im Hinblick auf das angesprochene Problem, dass die Bedrohung einer Ordnung oft nur indirekt aus dem Bewältigungshandeln zu erschließen ist, wäre zu prüfen, ob die Verwendung eines weiten Kommunikations- und entsprechenden Medienbegriffs gewinnbringend sein könnte; eines Kommunikationsbegriffs also, der nicht zuletzt nonverbale Handlungen einschließt.

Länge der Bedrohung

Ein weiteres wesentliches Kriterium aller Projekte des Bereichs C ist, dass die untersuchten Ordnungen mit langfristigen Bedrohungen konfrontiert sind, die sich in kurzen Phasen schnellen sozialen Wandels verdichten. Dadurch entsteht die Notwendigkeit, bei der Qualität der Bedrohung nicht bei den Phänomenen stehen zu bleiben, die häufig als „Krisen“ oder „Transformationsphasen“ bezeichnet werden. Für die Analyse ist es hilfreicher, kürzere und längere Phasen zu rhythmisieren und aufeinander zu beziehen. In den Projekten des Bereichs C müssen daher kurzzeitige genauso wie langandauernde Bedrohungen in den Blick genommen werden, da die einen ohne die anderen nicht zu verstehen sind. Durch das Begriffspaar der „latenten“ und „manifesten“ Bedrohung werden komplexe Phänomene sich auflösender bzw. sich rekonfigurierender Ordnungen präziser erfasst, analysiert und typologisiert.

Über einen langen Zeitraum hinweg lässt sich zunächst eine unterschwellige latente Form der Bedrohung beobachten, die den Akteuren unter Umständen nur unzureichend bewusst gewesen sein mag. Insbesondere Anfangs- und Endpunkte sowie die entscheidenden Stationen sind für die Akteure vielfach überhaupt nicht bestimmbar. So lässt sich in C01 eine latente Bedrohung in der Zeit von ca. 450 bis zur frühen Herrschaft Justinians in den 530er Jahren – also über fast 80 Jahre hinweg – finden. Während dieses mehrere Generationen umfassenden Zeitraumes gelang es den Kaisern nicht, über eine Politik des rein reaktiven Handelns hinauszukommen. Im amerikanischen Süden, mit dem sich Projekt C03 beschäftigt, fühlten sich wiederum Verfechter weißer Vorrechte vor der Abschaffung der Sklaverei im Jahre 1865 zunächst durch mögliche Sklavenaufstände bedroht. Das zunehmende Aufstreben der Afroamerikaner besonders in Nachkriegszeiten verstärkte dieses Gefühl der Bedrohung.

Die Projekte in C03 machen deutlich, dass von den langen Phasen latenter Bedrohung manifeste Bedrohungen abzugrenzen sind, die sich binnen kurzer Zeit in bestimmten Ereignissen zuspitzen und als wichtige Scharnierstellen für die weitere Entwicklung sozialer Ordnungen identifizieren lassen. Diese Phänomene finden sich auch in allen anderen Projekten: in Form von Usurpationen und Unruhen, die auf die Zeit nach 476 folgen (C01), im Ausbleiben oder Sterben eines männlichen Erben (C02) oder im gezielten Schüren ethnischer Konflikte durch daran interessierte Eliten in Afrika (C05).

Die empfundene Stärke der Bedrohung lässt sich selten direkt aus den Quellen ersehen. Die Abgrenzung latenter von manifesten Bedrohungen wird daher nicht nur durch das Betrachten der Akteure, die um die Hoheit über die Bedrohungskommunikation ringen, sondern auch in verstärktem Handeln der Akteure zu suchen sein.