Uni-Tübingen

Forschungsinteressen und Aufgabenfelder

Von der Konjunktur ästhetischer Fragestellungen, wie sie sich momentan insbesondere in den Gesellschafts- und Naturwissenschaften zeigt, können die Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaften – gerade in dem breiten Fächertableau des SFB, das auch Archäologie, Numismatik, Geschichte, Theologie, Linguistik und Rhetorik einbegreift – in doppelter Weise profitieren: Der erste Gewinn betrifft die Rückführung des Kunstdiskurses in die breitenwirksame Debatte über Mensch und Gesellschaft. Der zweite Gewinn besteht darin, sich in Fragen der Ästhetik von der Fixierung auf die Epoche der ästhetischen Theorie des 18. und 19. Jahrhunderts noch entschiedener, als es bisher versucht wurde, zu lösen. Damit veranlassen die jüngsten Ansätze, unter dem Gesichtspunkt der Ästhetik auch und gerade die Vormoderne neu in den Blick zu nehmen. Genau dies aber birgt die Chance und die Aufgabe – so die These und Zielsetzung des Forschungsverbunds –, nicht allein in überzeitlich-anthropologischer und aktuell-gesellschaftlicher, sondern auch in historisch-kultureller Perspektive ein ‚anderes‘ Verständnis von Ästhetik zu erschließen. Denn was die Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaften im Verbund mit weiteren historischen Kulturwissenschaften zum aktuellen transdisziplinären Diskurs beitragen können, ist:

  • eine Begründung dessen, was überhaupt als ‚ästhetisch‘ zu verstehen ist – im Sinn einer Grundlagendiskussion, die vielfach von den Geisteswissenschaften nicht mehr geführt wird, durch sie jedoch gerade vom kulturwissenschaftlichen Standpunkt aus neu perspektiviert werden sollte;
  • eine historische Vertiefung und Konturierung, die von den Gesellschaftswissenschaften meist zugunsten radikaler Gegenwärtigkeit, von den Naturwissenschaften zugunsten anthropologischer Kontinuität ausgeblendet wird;
  • ein heuristisch ernst zu nehmendes Angebot, wie vormoderne und gegenwärtige Perspektiven in ein ‚dichtes‘ Gespräch wechselseitiger Bereicherung über die Bestimmung des Ästhetischen und seiner Funktionen treten könnten.

Grundlegende Voraussetzung für eine Vernetzung der verschiedenen Ansätze und ein produktives Gespräch der Disziplinen ist es, dasjenige, was unter ‚Ästhetik‘ zu verstehen ist, neu zur Diskussion zu stellen. Der SFB fasst daher den Begriff der ‚Ästhetik‘ vorläufig als offenen heuristischen Suchbegriff. Um die dafür nötige Offenheit zu erreichen, muss der Begriff zunächst von seinen normativen Zuschreibungen, etwa der Suggestion einer systematischen Einheit, befreit und damit flexibilisiert werden. Hierfür sind drei Aspekte leitend:

(1) Der SFB legt seinen Untersuchungsschwerpunkt entschieden auf die historische Vielfalt ästhetischer Phänomene, wobei sich sein Forschungsinteresse innerhalb des Ästhetischen auf den Bereich artifizieller Praktiken, Manifestationen und Konzepte konzentriert.

(2) Dabei wird nicht von einem emphatischen ‚Kunst‘-Begriff ausgegangen, sondern von ästhetischen Akten (performativen Handlungen wie Ritualen, Zeremoniellen, Inszenierungen und Aufführungen etc.) und Artefakten (Texten und Objekten wie Bildwerken, Bauten, Partituren etc.), deren ‚ästhetische‘ Position zwischen Form- bzw. Gestaltungswissen und sozialer Praxis allererst zu bestimmen ist.

(3) Den heuristisch notwendigen Orientierungsrahmen bietet dabei ein ,Minimalkonsens‘ über die Kriterien, von denen aus die Suche sinnvoll aufgenommen werden kann: Zum Minimalkonsens zählt eine sinnlich-materiale Ausgangsbasis (Körper, Baustoffe, Farbe, Klänge, Worte, Handlungen etc.) sowie eine Sorgfalt in der Ausgestaltung (z.B. gezielter Einsatz von Materialien, reflektierte Anordnung), die die Gestaltung zu einer Aussageebene sui generis erhebt.