Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2020: Leute

Nestor der literarischen Moderne und Goethe-Experte

Zum Tode von Professor Dr. Gotthart Wunberg ein Nachruf von Georg Braungart

Am 14. Februar dieses Jahres, noch bevor die große Krise das Leben in Deutschland radikal veränderte, wurde Gotthart Wunberg in Tübingen zu Grabe getragen. Er war am 5. Februar verstorben, in seinem 90. Lebensjahr. Am Deutschen Seminar und im Leben der ganzen Universität, der er in den 1980er-Jahren auch als Vizepräsident diente, war Wunberg lange Jahre eine Persönlichkeit, die das akademische Leben wissenschaftlich und menschlich unglaublich bereicherte.

Der 1930 in Barmen geborene Gotthart Wunberg war nach einer Zeit als Lehrer an der Urspringschule und dann als Dozent in Leiden seit 1971 bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1995 an der Universität Tübingen tätig. Als Professor war er ein akademischer Lehrer, der sich nicht, wie viele andere seiner Kollegen in dieser Zeit, genierte, ‚Schüler‘ zu haben, wenngleich er dies nicht explizit anstrebte. Seine Seminare, oft vierstündig, waren getragen von einem unvergleichlichen Klima der Kollegialität, ja Freundschaft. „Ich bin immer nur so gut wie meine Studenten“, soll er einmal (und vermutlich häufiger) gesagt haben, wie einer seiner Schüler berichtet. 

Dass Gotthart Wunberg nach seiner Emeritierung acht Jahre die damals extrem herausgehobene Position des Direktors am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien übertragen bekam, zeigt, welch großes Renommee Wunberg in der Fachwelt hatte. Seine Dissertation über den ‚frühen Hofmannsthal‘, die bis heute ein Referenzwerk der Forschung ist, zeigt schon im Untertitel, wie innovativ und kreativ ihr Verfasser arbeitete (und dies über die ganze Dauer seines Wirkens in der Wissenschaft), er lautet: „Schizophrenie als dichterische Struktur“. Wunberg war zum einen rastlos im Erschließen von Quellen: Davon zeugen einflussreiche Quellensammlungen. Als unerreichtes und bis heute nicht gänzlich ausgeschöpftes Monument ragt aus der Fülle der Editionen die Dokumentation über das Junge Wien heraus, die auf über 1300 großformatigen Seiten alle Facetten der Wiener Moderne zeigt, philologisch präzise und in der Auswahl und Präsentation der Quellen kreativ und anregend. Die Wiener Moderne, die literarische Moderne überhaupt, war sicher sein zentrales Forschungs- und Interessengebiet. Hier regte er weitere Forschungen an, welche das Fach heute prägen. Und hier öffnete er den Blick auf intermediale und transkulturelle Vernetzungen der Literatur, lange bevor diese Begriffe zum Standard von Drittmittelanträgen wurden. Sein Buch über die ästhetische Wahrnehmung der Moderne (‚Wiedererkennen‘, 1983) ist kein Geheimtipp geblieben. Wie Wunberg dort etwa das literarische Potential der Wahrnehmung von Welt durch das Fenster von Eisenbahnwaggons erschloss – das war Anstoß für viele. Und immer schrieb – und sprach – er kultiviert, mit hohem Bewusstsein für die Verantwortung, welche wir für die Sprache und Poesie haben. 

Charakteristisch für die zugleich feine wie auch unorthodoxe Weise zu lehren und zu forschen, war Wunbergs Programm der ‚Unverständlichkeit‘ in der literarischen Moderne, ein Meilenstein in der Moderne-Forschung. Endlich hatte man als Student den Mut, zuzugeben, dass man so viele Texte einfach nicht verstehe. Wunberg zeigte, auch indem er sich erfrischend selbst zu diesen Schwierigkeiten bekannte, dass dies geradezu Programm eines großen Teils der Moderne ist. Damit regte er erneut wichtige Forschungen an. Wie der Historismus des 19. Jahrhunderts direkt in die Moderne führte, ohne einfach ein Gegenpol zu sein – auch das lernte das Fach von ihm.

Das zweite Gravitationszentrum seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit über Jahrzehnte war natürlich Goethe. Seine verstreuten Beiträge zur Goethe-Forschung, allesamt Kleinodien mit immer neuen Ideen und Beobachtungen, wurden 1997 von seinen Schülern in einem beeindruckenden Sammelband als Summe veröffentlicht. Goethe war für Wunberg, das kann man vermuten, wenn man mit ihm Umgang auch im Privaten hatte, nicht nur Forschungsobjekt, sondern auch das geheime Vorbild der eigenen Lebensgestaltung: Sein eigenes Leben, die eigene Existenz, zu pflegen, zu kultivieren und mit einer besonderen Verantwortlichkeit zu führen: Das mag er auch von Goethe gelernt haben, wenn er Jahrzehntelang Tag für Tag morgens um 6 oder 7 Uhr das öffentliche Schwimmbad aufsuchte, um sich zu ertüchtigen und den täglichen Spaziergang mit seinem Hund Jarosz nur in größter Not ausfallen ließ. Am Ende hat er den großen Weimaraner doch um einige Jahre an Alter übertroffen.

Mit Gotthart Wunberg verliert die Universität Tübingen eine prägende Gestalt, verlieren seine Schüler einen anregenden Lehrer und Freund und die Forschung einen Gelehrten, der impulsgebend und prägend war. Sie verneigt sich vor ihm und bewahrt sein Andenken in Treue.