Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 3/2020: Leute

Eine Institution am Deutschen Seminar

Zum Tode von Erika Bauer ein Nachruf von Annette Gerok-Reiter, Sandra Linden, Anna Mühlherr, Derk Ohlenroth, Klaus Ridder, Burghart Wachinger und Jochen Ziegeler

25 Jahre hat Erika Bauer, zuletzt als Akademische Direktorin, am Deutschen Seminar der Universität gelehrt und geforscht – am 17. April 2020 ist sie im Alter von 93 Jahren verstorben. 

Bevor sie 1967 ans Deutsche Seminar gerufen wurde, war sie Mitarbeiterin am Deutschen Sprachatlas in Marburg, dem in dieser Zeit tonangebenden dialektgeographischen Institut, sowie anschließend Lektorin für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Lund. Aus der Arbeit im Marburger Sprachatlas ist ihre Dissertation zur Dialektgeographie im südlichen Odenwald und Ried hervorgegangen, in Lund hat sie den schwedischen Doktorgrad erworben, in etwa ein Äquivalent der deutschen Habilitation. Das Deutsche Seminar erachtete es 1967 als einen besonderen Glücksfall, eine so ausgewiesene Persönlichkeit gewinnen zu können, denn Erika Bauer hatte gleichzeitig einen Ruf auf eine Professur an der Universität Kairo erhalten. Zieht man in Betracht, dass zu dieser Zeit eine universitäre Karriere für Frauen in hohem Maß ungewöhnlich war, kann man die Energie und Leistung, die hinter diesem wissenschaftlichen Erfolgsweg steht, erst eigentlich ermessen. 

Ihre dialektgeographischen und im weiteren Sinn sprachgeschichtlichen Forschungen hat Erika Bauer in ihrer Arbeit in der mediävistischen Abteilung des Deutschen Seminars mit Leidenschaft eingebracht. Generationen von Studierenden gingen durch ihre Hände und wurden durch sie in die Sprachgeschichte der alt-, mittel- und frühneuhochdeutschen Sprache eingeführt – mit sachkundiger Strenge, mit menschlicher Liebenswürdigkeit und immer mit viel Humor. Großzügig und unkompliziert stellte sie zudem jüngeren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Team der mediävistischen Abteilung ihr Wissen zur Verfügung, auch wenn es für sie Zeit und Mühe bedeutet hat. Aus ihrem sprachgeschichtlichen Zettelschatz speist sich noch heute manches Einführungsseminar, denn die von Erika Bauer in ihrem langjährigen Wirken zusammengestellten sprachgeschichtlichen Beispiele wurden, da in ihrer Pointiertheit unübertroffen, von Lehrgeneration zu Lehrgeneration weitergegeben. Und das heißt: Erika Bauer, ebenso bescheiden wie kundig, war und ist am Deutschen Seminar eine Institution. 

Nach frühen dialektgeographischen Arbeiten hat Erika Bauer sich ganz den aus dem 15. Jahrhundert stammenden Schriften des gelehrten Kartäuserbruders Heinrich Haller gewidmet. Dessen Werk – zahlreiche Übersetzungen lateinischer Predigten, kontemplativen, belehrenden und auch unterhaltsam-erbaulichen Schriften – hat sie in Ausgaben, Untersuchungen und lateinisch-deutschen Wörterbüchern in den letzten über fünfzig Jahren für die weitere Forschung erschlossen, mit besonderem Ertrag für die z.T. bis heute unterschätzten Übersetzungen biblischer Schriften aus der Zeit ,vor Luther‘. Aus seinem Werk konnte sie aus dem Stand zitieren, ihm galt ihr Respekt und ihre Zuneigung, je vertrauter sie mit diesem Werk war und wurde. Erst der Ruhestand bescherte Erika Bauer jedoch die volle Freiheit für ihre maßgeblichen Arbeiten an ihrem Lebenswerk. Mit Hingabe und unermüdlichem Fleiß hat sie sich dieser Freiheit auch noch in hohem Alter verschrieben und in der editorischen Tätigkeit mit Haller den ihr entsprechenden Lebensinhalt gefunden. Es bezeugt diese Bedeutung ebenso wie ihren Humor, dass sie – alleinstehend in einem großen Haus – den Hauseingang mit dem Schildchen versah: ‚Erika Bauer – Heinrich Haller‘, einer der kalkulierten Überraschungseffekte, die sie so liebte. Heinrich Haller, der in ihrem Arbeitszimmer ,residierte‘, wurde so gleichsam in Personalunion ihr praktischer Beschützer und spiritueller Beistand vor Ort. 

Neben dem verschmitzten Humor gehörten zu den Grundhaltungen von Erika Bauer Dankbarkeit und wissbegierige Offenheit. Dankbar war sie all denen, die ihr bei ihrem wissenschaftlichen Weg geholfen haben, ihrer Familie, ihrer Schulrektorin, die ihr kurz nach dem Krieg unter abenteuerlichen Umständen das Abitur ermöglicht hatte, den Kollegen und Freunden aus Lund. Dankbar war sie auch denen, die ihr, wie sie sagte, die Geheimnisse des Computers‘, allen voran Paul Sappler, erschlossen hatten, denn sie ließ sich bereits früh offen und unverdrossen auf Neuerungen der Technik ein – und wurde in Tübingen als fundierte Tustep-Kennerin eine der ersten ,Computerfrauen‘. Auch dieses Wissenwollen im technischen Bereich hat sie sich sehr diszipliniert bis ins hohe Alter bewahrt. Die Grundlage aller ihrer Tätigkeiten aber blieben ihr Sinn fürs Praktische und Bodenständige und ihre freigebige Herzlichkeit. So hat sie fürsorglich alle neugeborenen Kinder der mediävistischen Abteilung mit selbstgehäkelten Socken beschenkt. Oder sie gab Besuchern stets eine Flasche Wein mit, aus Heppenheim, von der Bergstraße, dem Ort ihrer Kindheit. 

Ihr so produktives Schaffen fand mit dem Wechsel ins Seniorenheim ein unerwartetes Ende. Es ist kaum zu ermessen, was es für Frau Bauer bedeutet haben muss, ohne jenen täglichen Lebensinhalt der Haller-Edition da sein zu müssen. Doch geklagt hat sie kaum. Noch am 15. Juni 2017, beim Empfang zu ihrem neunzigsten Geburtstag, präsidierte sie, unvergesslich unter einem frischen Blumenkränzchen und heiter, in der Mitte einer großen Zahl von Gratulanten. 

Im Gedächtnis des Deutschen Seminars bleibt Erika Bauer fest verankert – als profilierte Forscherin, als zugewandte Lehrende, als aufmerksam-zuhörende Kollegin, als bemerkenswerte Persönlichkeit voll Witz und Herz, eine Persönlichkeit von Rang.