Uni-Tübingen

Reallabor Kastanienhof

Marcus Hölz, Geschäftsführer von AiS gGmbH, neben gefüllten Säcken mit Pflanzenkohle

Am Kastanienhof in Bodelshausen betreibt die Universität Tübingen in Kooperation mit Arbeit in Selbsthilfe inklusiv gGmbH (AiS) seit 2025 ein Reallabor zur Erforschung nachhaltiger Pyrolyse- und Pflanzenkohleprozesse. Ziel ist es, anwendungsbezogenen Forschungsfragen nachzugehen und neue Wege für nachhaltige Energie und Kreislaufwirtschaft zu eröffnen.


Was ist Pyrolyse?

Pyrolyse ist ein Verfahren, bei dem Biomasse – wie Holzreststoffe, Grünschnitt und andere Pflanzenreste – unter Ausschluss von Sauerstoff erhitzt wird. Dadurch verbrennt das Material nicht, sondern es entstehen:

  • Pflanzenkohle – diese kann als Ausgangsmaterial für Bodenverbesserer weiterverwendet werden.
  • Pyrolysegase – diese werden in das Verbrennungssystem rückgeführt und ersetzen einen externen Brennstoff.
  • Wärmeenergie – diese wird in den Wärmekreislauf des Kastanienhofs eingespeist und heizt Gebäude und Gewächshäuser.

Mithilfe der Pyrolyse kann der in der Biomasse enthaltene Kohlenstoff dauerhaft in fester Form gebunden werden, anstatt als CO₂ in die Atmosphäre zu gelangen. Werden bei der Pyrolyse Wertstoffkreisläufe geschlossen, ist dieses Verfahren nicht nur klimaneutral, sondern sogar Kohlenstoff-negativ.


Hintergrund des Projekts

Bereits 2012 hat die Universität Tübingen mit ihrem Konzept „Research – Relevance – Responsibility“ den Exzellenzstatus erlangt. Forschung, Lehre und Wissenstransfer in Wirtschaft und Gesellschaft bilden das Fundament dieser Strategie. Im Sinne des Wissensdreiecks aus Bildung, Forschung und Innovation versteht sich die Universität als aktive Gestalterin gesellschaftlicher Entwicklung und nachhaltiger Transformation.

Aus der Initiative „Bunte Wiese“ zur Nutzung von Wiesenschnitt entstand die Idee, Biomasse aus der Landschaftspflege über Pyrolyse in wertvolle Pflanzenkohle und nachhaltige Pelletdünger zu verwandeln. In einer Machbarkeitsstudie mit der AiS inklusiv gGmbH wurde dieses Konzept erfolgreich erprobt und bildet nun die Grundlage für das Reallabor am Kastanienhof.


Projektpartner AiS und der Kastanienhof

Der Projektpartner Arbeit in Selbsthilfe inklusiv (AiS) gGmbH in Mössingen ist ein inklusiver Betrieb, der Menschen mit Behinderung die Teilhabe am Arbeitsleben ermöglicht. AiS pflegt in Grüngruppen die Streuobstwiesen-Bestände in den umliegenden Gemeinden, führt Baumschnitt- und Mäharbeiten aus. In der Manufaktur verarbeiten Menschen mit und ohne Behinderung das geerntete Obst zu verschiedenen Produkten weiter.

Auf dem Kastanienhof in Bodelshausen betreibt AiS einen Hofladen, ein Hofcafé, eine Zierpflanzengärtnerei und Landwirtschaft. Außerdem gehören zum Kastanienhof zwei Wohngebäude für Menschen mit und ohne Behinderungen, ein Bildungszentrum für den Bundesfreiwilligendienst (betrieben von der KBF), eine Reithalle für therapeutisches Reiten und Stallungen für die Tiere.


Was ist ein Reallabor?

Ein Reallabor ist eine Forschungseinrichtung, bei der wissenschaftliche Erkenntnisse direkt unter realen Bedingungen gewonnen und erprobt werden. Forschende arbeiten hier gemeinsam mit Praxispartnerinnen und -partnern, Kommunen, Betrieben und Bürgerinnen und Bürgern an konkreten Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen.

Im Reallabor Kastanienhof werden ökologische, ökonomische und soziale Aspekte miteinander verbunden. Forschung findet also nicht im Labor, sondern mitten im Alltag statt – mit Ergebnissen für Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft.


Geschlossene Wertstoffkreisläufe und klimaneutrale Energie

Im Reallabor wird Biomasse aus Baumschnitt von Streuobstwiesen und Waldrestholz aus der Forstwirtschaft verwertet. Die Pyrolyseanlage wandelt diese Stoffe in Pflanzenkohle um, die als Bodenverbesserer und Düngergrundlage dient.

Gleichzeitig liefert die Pyrolyseanlage Wärme für das lokale Nahwärmenetz des Kastanienhofs: Wohnhäuser, Hofladen, Gewächshäuser und Café. Damit entsteht ein geschlossener Kreislauf aus Energiegewinnung, Ressourcenschonung und landwirtschaftlicher Anwendung. Der Kastanienhof spart damit derzeit jährlich 780 Tonnen an CO₂ ein.


Was ist Pflanzenkohle und wofür wird sie verwendet?

Pflanzenkohle ist das feste Endprodukt der Pyrolyse. Sie besteht aus reinem, stabil gebundenem Kohlenstoff und hat eine stark poröse Struktur – ähnlich einem Schwamm. Diese Struktur macht sie zu einem idealen Speicher für Wasser und Nährstoffe. Außerdem bindet Pflanzenkohle Kohlenstoff stabil für Hunderte von Jahren und reduziert damit Treibhausgas-Emissionen.

Pflanzenkohle kann vielfältig eingesetzt werden:

  • Landwirtschaft: Pflanzenkohle verbessert die Bodenqualität, ersetzt Düngemittel und fördert damit eine nachhaltige Entwicklung. Weil sie die Wasserhaltefähigkeit erhöht, kann sie Pflanzen vor Dürre oder Nässe schützen.
  • Forstwirtschaft: Pflanzenkohle wird zur ökologischen Aufforstung eingesetzt und dient zudem als Waldbrandschutz, da Pflanzenkohle schwer brennbar ist.
  • Bauwirtschaft: Als Zusatz in Bau- und Dämmstoffen kann Pflanzenkohle klimafreundlich eingesetzt werden.
  • Tierhaltung: Pflanzenkohle kann zum Beispiel als gesundheitsförderlicher Futterzusatz eingesetzt werden, der Bakterien und Methan bindet oder als klimafreundliches Einstreu in Ställen.

Praxisorientierte Forschung und Inklusion als gelebte Nachhaltigkeit

Das Vorhaben „Reallabor Pyrolyseanlage“ eröffnet der Universität und ihren Forschenden vielfältige Möglichkeiten, dem selbstgesteckten Anspruch und ihrer gesellschaftlichen Rolle (Research, Relevance and Responsibility) gerecht zu werden. Mit und im Reallabor können innovative Projekte rund um das Thema „Pflanzenkohle“ entwickelt und durchgeführt werden, die die Vielschichtigkeit und den Beitrag dieser Technologie in ganz unterschiedlichen Feldern aufzeigen: industrielle Transformation, Ökologie, Nachhaltigkeit, CO2-Sequestrierung, Klimawandel, Bodenverbesserung, Biodiversität, Schließung von Stoffkreisläufen, Kulturlandschaft, Citizen Science und gelebte Inklusion. Die Kooperation fördert die gesellschaftliche und berufliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung und schafft neue Möglichkeiten für vielfältige Begegnungen.


Kontakt

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