Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 3/2023: Forschung

Wie elf Geschwister ihre Kindheit auf dem Land erlebten: ein tiefes, zugängliches und unterhaltsames historisches Sachbuch

Ein Interview mit dem Tübinger Historiker Ewald Frie

Für sein autobiographisch geprägtes Werk "Ein Hof und elf Geschwister. Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben in Deutschland" ist Ewald Frie, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Tübingen, mit dem Deutschen Sachbuchpreis 2023 ausgezeichnet worden. 

Herr Frie, was war der Anstoß zu diesem Buch? 

Die Idee zu einem Buchprojekt über meine Kindheit auf dem Land hatte ich schon länger. Denn die Geschichten meiner zehn Geschwister über ihre Kindheit unterscheiden sich sehr stark voneinander. Und das ist nicht wirklich überraschend: Mein ältester Bruder ist Jahrgang 1944, meine jüngste Schwester Jahrgang 1969 – es gibt also einen Altersunterschied von immerhin 25 Jahren zwischen den ältesten und der jüngsten meiner Geschwister. 

Als ich 2019 in die Heidelberger Akademie der Wissenschaften aufgenommen wurde, habe ich in meiner kurzen Vorstellung ein wenig mit dem Material aus den Geschichten meiner Geschwister gespielt und das erstmals öffentlich präsentiert. Das stieß auf Resonanz und ich habe festgestellt, dass diese Geschichten auch andere anregen, über sich selber nachzudenken.

Der letzte Anstoß kam dann während der Corona-Pandemie: Ich hatte ein Buchprojekt über den Pazifik begonnen, konnte die Recherchen aber pandemiebedingt nicht weiterführen, weil Reisen und Archivbesuche nicht möglich waren. 

Getreu dem Motto "Wann, wenn nicht jetzt?" habe ich also meinen Geschwistern eine E-Mail geschrieben. Darin habe ich das Projekt über unser Leben auf dem Land skizziert und gesagt, dass ich sie gerne alle interviewen würde. Das Ganze zunächst ergebnisoffen – es war für mich noch nicht klar, ob die Interviews tatsächlich ein Buch rechtfertigen würden. Parallel zu den Interviews habe ich ein bisschen Agrarsoziologie, ein bisschen Agrargeschichte und auch das Landwirtschaftliche Wochenblatt für Westfalen und Lippe gelesen. Das erschien mir schließlich als ausreichende Quellen- und Literaturgrundlage für ein Buch. 

Wie haben Ihre Geschwister auf die Idee zum Buch reagiert? 

Erstmal waren alle neugierig und haben mitgemacht. Als der Text stand, habe ich meinen Geschwistern das Manuskript zur Freigabe ihrer Zitate zugeschickt. Da gab es auch kritische Reaktionen zu einzelnen Wertungen in meinem Manuskript. Gleichzeitig kam die Frage auf, ob es wünschenswert sei, wenn alle Mitglieder meiner Familie in die Öffentlichkeit treten. Deswegen haben wir dann im Buch alle Vornamen verändert. Das hat zum einen zur Folge, dass man die Gewschister nicht googeln kann. Andererseits wird dadurch verdeutlicht, dass es mein Text und mein Blick auf die Familie ist. Damit können jetzt auch die Familienmitglieder gut leben, die zunächst gewisse Bedenken hatten. Nach dem Erscheinen des Buches und auch mit dem Erfolg sind, so ist mein Eindruck, alle sehr zufrieden.

Wann haben Sie den Bauernhof verlassen?

Ich habe in Münster studiert und promoviert, das sind 25 km von zuhause. Schon während des Zivildienstes habe ich mich nicht mehr zum Bauernhof zugehörig gefühlt. Richtig aus dem Dunstkreis von Familie und Hof habe ich mich aber erst nach der Promotion 1992 entfernt. Trotz allem gab es immer und gibt es bis heute Verbindungen. Immerhin fünf meiner Geschwister leben noch am Ort. Der Älteste bewohnt das Bauernhaus. Zwei Geschwister wohnen bei Osnabrück, zwei weitere im Rheinland. Und dann gibt es noch die beiden "Außenposten": meine jüngste Schwester an der Ostsee und ich in Tübingen. 

Was ist das Besondere an Oral History?

Der Text meines Buches ist so aufgebaut, dass immer deutlich wird: Oral History produziert Quellen – aber diese Quellen sind nicht einfach Geschichte. Weil Erinnerung immer gegenwärtige Erinnerung ist, muss sie in einem Kontext interpretiert werden. Deswegen die anderen Quellen wie das Landwirtschaftliche Wochenblatt. Erst das Herstellen eines Kontexts ermöglicht eine genauere Einschätzung, was eine Geschichte, die mir jemand erzählt, tatsächlich aussagt, wofür sie stehen kann. 

Oral History ist aber wertvoll, weil sie Einblicke ermöglicht, die über schriftliche Quellen kaum erreichbar sind. Zwei Beispiele: Das Marienlieder-Singen beim Schweinefüttern, das in den 1960er Jahren abbricht, oder auch die Gerüche, die bei meinen jüngeren Geschwistern auf einmal zum Thema werden, während sie bei den älteren keine Rolle spielen. Hier wird sichtbar, wie sich die "Machtverhältnisse" zwischen Dorf- und Bauernkindern verändern: Plötzlich fangen die Bauernkinder an zu "stinken". – Das haben sie vorher auch getan, aber da waren sie noch unter sich, und der Geruch wirkte nicht trennend. 

In diesen Details, in der subjektiven Wahrnehmung, die für die Beteiligten enorm wichtig sind, wird das große Ganze verhandelt und wird letztendlich die Veränderung im Dorfleben sichtbar. Und diese Details lassen sich nur über Oral History abrufen. 

Wie sind Sie zur Geschichte gekommen? 

Ich habe schon während meiner Schulzeit viele Bücher und Texte mit historischen Bezügen gelesen – ohne daran zu denken, irgendetwas mit Geschichtswissenschaft machen zu wollen. Während meines Zivildienstes habe ich die verschiedensten Fächerkombinationen erwogen und bin schließlich bei Germanistik, Mittlerer Geschichte und Katholischer Theologie rausgekommen. 

Bereits nach dem ersten Semester habe ich die Germanistik rausgeschmissen und nur noch die beiden anderen Fächer weiterstudiert. Im Grundstudium habe ich sehr viele Lehrveranstaltungen in Katholischer Theologie besucht, weil ich das anfangs aufgrund seiner Bandbreite als das interessantere Fach empfand. Im weiteren Studienverlauf hat mich aber mehr und mehr Geschichte fasziniert. Folgerichtig habe ich im Hauptstudium meine Energien vorrangig in das Geschichtsstudium investiert. 

Warum ist es sinnvoll, sich mit Geschichte zu befassen? 

Ich habe als Reaktion auf mein Buch eine dreistellige Zahl von Zuschriften erhalten. Sie demonstrieren sehr gut, was Geschichtswissenschaft zu leisten imstande ist: Sie kann einen Rahmen bereitstellen, um sich selber, seine Vergangenheit und auch die Gegenwart besser zu verstehen: Warum ist diese Welt untergegangen? Was ist davon geblieben? Wie singulär ist meine Erfahrung? Warum werden bestimmte Dinge öffentlich besprochen, andere jedoch nicht? Alle diese Fragen lassen sich mit einem Verständnis von und einer Sensibilität für Geschichte besser beantworten als ohne. Und das zeigt dieses Buch sehr anschaulich. 

Würden Sie Studierenden heute empfehlen, Geschichte zu studieren?

Ich habe an meinen Eltern sehr geschätzt, dass sie mir sehr stark vermittelt haben: "Mach, was Du willst – aber übernimm‘ Verantwortung für Deine Entscheidung." Tatsächlich waren meine Geschwister und ich alle mit dem Höchstsatz BAföG ausgestattet. Wir konnten studieren, was wir wollten. Aber wenn das BAföG zu Ende ging, mussten wir selber zurechtkommen, weil es von zu Hause keine Möglichkeiten zur Unterstützung gab. Ich finde das nach wie vor gut: ich kann wirklich machen, was ich will und was mir wichtig ist – aber ich muss dann auch die Folgen ertragen. 

Insofern würde ich das Fach Geschichte genauso empfehlen wie andere Fächer auch. Die Studierenden oder allgemein junge Menschen sollen herausfinden, was ihr Thema ist. Und das sollen sie dann auch machen. 

Sie haben in Ihrer Rede anlässlich der Preisverleihung auch explizit ihren Kolleginnen und Kollegen aus der Tübinger Geschichtswissenschaft gedankt, „weil diese alle in gewisser Weise eine ‚Macke‘ haben, was die wunderbare Möglichkeit bietet, voneinander zu lernen und schräge Dinge neu zu denken“…

Ich bin sehr dankbar für die Erfahrung, fünf Jahre lang (2011-2016) den Tübinger Sonderforschungsbereich 923 "Bedrohte Ordnungen" geleitet zu haben. Dieser Rahmen hat es ermöglicht, interdisziplinär und über Epochen hinweg inhaltliche Debatten zu führen. Diese Erfahrung war für mich wichtig und sehr bereichernd. Jede und jeder hat ihren bzw. seinen spezifischen Zugang zu einer Thematik – das, was ich in meiner Rede etwas flappsig als "Macke" bezeichnet habe. Das macht es möglich, mit anderen Augen zu sehen, andere Perspektiven auf einen Gegenstand zu erleben. Ich erinnere mich an sehr ernsthafte Debatten, bei denen Grundfragen auf dem Spiel standen: Bestimmte Fächer sagen, "wir können das nur in einer bestimmten Weise machen", oder "wir haben dafür keine Quellen bzw. keinen empirischen Zugang." Dann mussten wir gemeinsam überlegen, wie wir zueinander kommen, im Fachbereich und im Sonderforschungsbereich. 

2017 habe ich das Buch "Die Geschichte der Welt" geschrieben – und ich glaube, dieses Buch würde es ohne den SFB "Bedrohte Ordnungen" nicht geben.

Was sind Ihre aktuellen Forschungsthemen?

Wir haben den Sonderforschungsbereich am 30. Juni 2023 abgeschlossen, nach einer Laufzeit von 12 Jahren über drei Förderphasen. Dazu ist gerade der Band „Krisen anders denken: Wie Menschen mit Bedrohungen umgegangen sind und was wir daraus lernen können“ erschienen. Mit meinem Kollegen Boris Nieswand aus der Soziologie arbeite ich an einem Buch mit dem Arbeitstitel "Keplerstr. 2: Über die Praxis geisteswissenschaftlicher Forschung", in dem wir Erfahrungen aus der SFB-Arbeit verarbeiten. Und auch mein Buchprojekt zum Pazifik, das während Corona liegengeblieben ist, habe ich wieder aufgenommen.

Das Interview führte Maximilian von Platen

Deutscher Sachbuchpreis 2023

Für „Ein Hof und elf Geschwister. Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben in Deutschland“ (Verlag C.H.Beck), ist Ewald Frie mit dem Deutschen Sachbuchpreis 2023 ausgezeichnet worden. In der Begründung der Jury heißt es unter anderem:

„Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben geschieht überall. Eine persönliche und überraschende Perspektive auf diesen Veränderungsprozess nimmt Ewald Frie ein: Am Beispiel seiner Familie aus dem Münsterland beschreibt er Spannungen, die sich zwischen Stadt und Land entwickelt haben und uns gegenwärtig intensiv beschäftigen. In seiner verblüffend einfachen und zugleich poetischen Sprache schafft Frie Zugang zu einer Welt im Wandel – immer empathisch, aber nie nostalgisch. Auf der Basis von Interviews mit seinen Geschwistern hat Ewald Frie ein tiefes und gleichzeitig zugängliches und unterhaltsames historisches Sachbuch verfasst. Diese Alltagsgeschichte geht von leicht zu übersehenden Details aus und entwickelt große Gedanken. Ein inspirierendes Beispiel für innovative Geschichtsschreibung.“

Mit dem Deutschen Sachbuchpreis zeichnet die Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels das Sachbuch des Jahres aus. Ausgezeichnet wird ein herausragendes Sachbuch in deutschsprachiger Originalausgabe, das Impulse für die gesellschaftliche Auseinandersetzung gibt.

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Sonderforschungsbereich Bedrohte Ordnungen

Der SFB 923 "Bedrohte Ordnungen" ist nach 12 Jahren Laufzeit am 30. Juni 2023 abgeschlossen worden.

Finanzkrisen, Natur- und Technikkatastrophen, Terroranschläge und die Flucht vor Terror haben weltweit tiefe Spuren in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur hinterlassen. Extreme Situationen beeinträchtigen das alltägliche Leben. Sie machen uns bewusst, wie brüchig und voraussetzungsvoll die Grundlagen unseres Lebens und Handelns sind. Extreme Situationen können auch zu einem raschen Wandel der sozialen Wahrnehmungs- und Handlungsmuster führen. - Ausgehend von den genannten Bedrohungsszenarien hat der SFB 923 über drei Förderphasen hinterfragt, was in sozialen Ordnungen passiert, in denen Akteure zu der Überzeugung gelangen, dass Handlungsoptionen unsicher werden, Verhaltensweisen und Routinen infrage stehen, sie sich jetzt oder in naher Zukunft nicht mehr aufeinander verlassen können, und wenn es ihnen gelingt, eine Bedrohungskommunikation zu etablieren.