Was ist das Besondere an Oral History?
Der Text meines Buches ist so aufgebaut, dass immer deutlich wird: Oral History produziert Quellen – aber diese Quellen sind nicht einfach Geschichte. Weil Erinnerung immer gegenwärtige Erinnerung ist, muss sie in einem Kontext interpretiert werden. Deswegen die anderen Quellen wie das Landwirtschaftliche Wochenblatt. Erst das Herstellen eines Kontexts ermöglicht eine genauere Einschätzung, was eine Geschichte, die mir jemand erzählt, tatsächlich aussagt, wofür sie stehen kann.
Oral History ist aber wertvoll, weil sie Einblicke ermöglicht, die über schriftliche Quellen kaum erreichbar sind. Zwei Beispiele: Das Marienlieder-Singen beim Schweinefüttern, das in den 1960er Jahren abbricht, oder auch die Gerüche, die bei meinen jüngeren Geschwistern auf einmal zum Thema werden, während sie bei den älteren keine Rolle spielen. Hier wird sichtbar, wie sich die "Machtverhältnisse" zwischen Dorf- und Bauernkindern verändern: Plötzlich fangen die Bauernkinder an zu "stinken". – Das haben sie vorher auch getan, aber da waren sie noch unter sich, und der Geruch wirkte nicht trennend.
In diesen Details, in der subjektiven Wahrnehmung, die für die Beteiligten enorm wichtig sind, wird das große Ganze verhandelt und wird letztendlich die Veränderung im Dorfleben sichtbar. Und diese Details lassen sich nur über Oral History abrufen.
Wie sind Sie zur Geschichte gekommen?
Ich habe schon während meiner Schulzeit viele Bücher und Texte mit historischen Bezügen gelesen – ohne daran zu denken, irgendetwas mit Geschichtswissenschaft machen zu wollen. Während meines Zivildienstes habe ich die verschiedensten Fächerkombinationen erwogen und bin schließlich bei Germanistik, Mittlerer Geschichte und Katholischer Theologie rausgekommen.
Bereits nach dem ersten Semester habe ich die Germanistik rausgeschmissen und nur noch die beiden anderen Fächer weiterstudiert. Im Grundstudium habe ich sehr viele Lehrveranstaltungen in Katholischer Theologie besucht, weil ich das anfangs aufgrund seiner Bandbreite als das interessantere Fach empfand. Im weiteren Studienverlauf hat mich aber mehr und mehr Geschichte fasziniert. Folgerichtig habe ich im Hauptstudium meine Energien vorrangig in das Geschichtsstudium investiert.
Warum ist es sinnvoll, sich mit Geschichte zu befassen?
Ich habe als Reaktion auf mein Buch eine dreistellige Zahl von Zuschriften erhalten. Sie demonstrieren sehr gut, was Geschichtswissenschaft zu leisten imstande ist: Sie kann einen Rahmen bereitstellen, um sich selber, seine Vergangenheit und auch die Gegenwart besser zu verstehen: Warum ist diese Welt untergegangen? Was ist davon geblieben? Wie singulär ist meine Erfahrung? Warum werden bestimmte Dinge öffentlich besprochen, andere jedoch nicht? Alle diese Fragen lassen sich mit einem Verständnis von und einer Sensibilität für Geschichte besser beantworten als ohne. Und das zeigt dieses Buch sehr anschaulich.
Würden Sie Studierenden heute empfehlen, Geschichte zu studieren?
Ich habe an meinen Eltern sehr geschätzt, dass sie mir sehr stark vermittelt haben: "Mach, was Du willst – aber übernimm‘ Verantwortung für Deine Entscheidung." Tatsächlich waren meine Geschwister und ich alle mit dem Höchstsatz BAföG ausgestattet. Wir konnten studieren, was wir wollten. Aber wenn das BAföG zu Ende ging, mussten wir selber zurechtkommen, weil es von zu Hause keine Möglichkeiten zur Unterstützung gab. Ich finde das nach wie vor gut: ich kann wirklich machen, was ich will und was mir wichtig ist – aber ich muss dann auch die Folgen ertragen.
Insofern würde ich das Fach Geschichte genauso empfehlen wie andere Fächer auch. Die Studierenden oder allgemein junge Menschen sollen herausfinden, was ihr Thema ist. Und das sollen sie dann auch machen.
Sie haben in Ihrer Rede anlässlich der Preisverleihung auch explizit ihren Kolleginnen und Kollegen aus der Tübinger Geschichtswissenschaft gedankt, „weil diese alle in gewisser Weise eine ‚Macke‘ haben, was die wunderbare Möglichkeit bietet, voneinander zu lernen und schräge Dinge neu zu denken“…
Ich bin sehr dankbar für die Erfahrung, fünf Jahre lang (2011-2016) den Tübinger Sonderforschungsbereich 923 "Bedrohte Ordnungen" geleitet zu haben. Dieser Rahmen hat es ermöglicht, interdisziplinär und über Epochen hinweg inhaltliche Debatten zu führen. Diese Erfahrung war für mich wichtig und sehr bereichernd. Jede und jeder hat ihren bzw. seinen spezifischen Zugang zu einer Thematik – das, was ich in meiner Rede etwas flappsig als "Macke" bezeichnet habe. Das macht es möglich, mit anderen Augen zu sehen, andere Perspektiven auf einen Gegenstand zu erleben. Ich erinnere mich an sehr ernsthafte Debatten, bei denen Grundfragen auf dem Spiel standen: Bestimmte Fächer sagen, "wir können das nur in einer bestimmten Weise machen", oder "wir haben dafür keine Quellen bzw. keinen empirischen Zugang." Dann mussten wir gemeinsam überlegen, wie wir zueinander kommen, im Fachbereich und im Sonderforschungsbereich.
2017 habe ich das Buch "Die Geschichte der Welt" geschrieben – und ich glaube, dieses Buch würde es ohne den SFB "Bedrohte Ordnungen" nicht geben.
Was sind Ihre aktuellen Forschungsthemen?
Wir haben den Sonderforschungsbereich am 30. Juni 2023 abgeschlossen, nach einer Laufzeit von 12 Jahren über drei Förderphasen. Dazu ist gerade der Band „Krisen anders denken: Wie Menschen mit Bedrohungen umgegangen sind und was wir daraus lernen können“ erschienen. Mit meinem Kollegen Boris Nieswand aus der Soziologie arbeite ich an einem Buch mit dem Arbeitstitel "Keplerstr. 2: Über die Praxis geisteswissenschaftlicher Forschung", in dem wir Erfahrungen aus der SFB-Arbeit verarbeiten. Und auch mein Buchprojekt zum Pazifik, das während Corona liegengeblieben ist, habe ich wieder aufgenommen.
Das Interview führte Maximilian von Platen