Religionspädagogik

Die Erforschung des Gesamtwerks Elie Wiesels

Elie Wiesel hat ein umfangreiches wie vielseitiges Werk in vier Sprachen (Jiddisch, Hebräisch, Französisch und Englisch) vorgelegt, welches diverse Gattungen umspannt: Artikel, Essays, Romane, Novellen, Dialoge, Dramen, Kantaten, Übersetzungen, Reportagen, Reiseberichte, Porträts, Legenden, Parabeln, Memoiren, Interviews, Reden, Buchrezensionen, Theaterkritiken, Bibelkommentare, Predigten, Theologietraktate. Wiesels Lebenswerk (mit bislang mehr als 50 publizierten Büchern) bildet in immer neuen Konstellationen und Variationen Tatsachen, Orte, Figuren, Motive, Fragen, Symbole sowie Paradoxa ab und schafft über Gattungsgrenzen hinweg einen umfassenden Zusammenhang. Das Fundament seines Werkes bilden die autobiographischen Überlebens- und Lebensberichte, wie seine Memoiren Die Nacht. Elie Wiesel selbst legt einen Gesamtplan seines Werkes nahe, da sich sein ganzes erzählerisches Werk wie „konzentrische Kreise“ um das Zentrum seine Memoiren Die Nacht drehe (zit. bei Brown 1990, 62). Er wählte belletristische (Romane, Dramen, Märchen, Kantaten usw.) und essayistische Formen (kritische, politische, humanitäre, pädagogische Essays) sowie judaistische (das biblische, rabbinische und chassidische) Perspektiven, um seinen biographischen Fragestellungen Ausdruck zu verleihen.

Bisher wurden die Bücher Wiesels vor allem als Einzelwerke übersetzt und wahrgenommen, nicht als Teile eines organischen Ganzen, das sich erst im Gesamtzusammenhang des Werkes offenbart. Die meisten seiner zahllosen Artikel, Kolumnen, Kommentare und Reden sind derzeit noch unübersetzt. Sie stellen eine entscheidende Quelle für das Selbstverständnis des zeitgenössischen Judentums dar, da sie ein Selbstkommentar zu seinem literarischen Schaffen bilden, das in immer neuen Anläufen die entscheidenden Reflexionen zur vormodernen und modernen jüdischen Existenz artikuliert.

Die Elie-Wiesel-Forschung lässt sich in die folgenden Hauptströmungen unterteilen:

1. Jüdisch-theologische und christlich-theologische Deutungen

2. Literaturwissenschaftliche Annäherungen im Rahmen der Holocaust-Literatur

3. Ethische, humanistische und pädagogische Deutungen

4. Biblische, talmudische, rabbinische und chassidische Werkinterpretationen

 

Das Gesamtwerk kann nach vier literarischen und sprachlichen Perioden unterschieden werden:

I. Periode: 1945–1956. Autobiographischer und journalistischer Schwerpunkt (Hebräisch und Jiddisch)

II. Periode: 1958–1972: Belletristischer Schwerpunkt (Französisch)

III. Periode: 1972–1986: Jüdischer Schwerpunkt (Französisch und Englisch)

IV. Periode: 1987–heute: Autobiographischer, essayistischer und publizistischer Schwerpunkt (Französisch und Englisch)

Häufig kehrt dasselbe Motiv bei Wiesel in der gleichen Periode in allen vier Werkabteilungen wieder: als politische Information, als literarische Fiktion, als ethische Reflexion und mystische Spekulation. In manchen Werken mischen sich die vier Stimmen des Memorialisten, des Literaten, des Essayisten und des Visionärs zu einer kunstvollen Komposition. Deshalb ist es für die Gesamtausgabe entscheidend, verschiedene hermeneutische Perspektiven einzunehmen.

Die internationale Wiesel-Forschung kann als impressionistisch bezeichnet werden. Nur in wenigen Fällen werden Wiesels literarische Werke im Horizont jüdischer und jiddischer Literatur interpretiert. Judaistische Interpretationen berücksichtigen umgekehrt meist keine anderen literarischen Traditionen und Kontexte, christlich-theologische Deutungen vernachlässigen wiederum die jüdischen Interpretationen. Literaturwissenschaftliche Abhandlungen beschränken sich in der Regel auf einzelne literarische Texte, auf einzelne Romane oder einzelne kontextuelle Verortungen.  

Zahlreiche Werke von Elie Wiesel liegen in deutschen Übersetzungen vor, jedoch sind die meisten davon vergriffen. Diese Lücke möchte die Forschungsstelle sukzessive mit der Erarbeitung einer kritischen Gesamtausgabe der Werke Elie Wiesels sowie weiterer, wissenschaftlicher Artikel und Publikationen schließen.

Eine genaue Ausführung über die Erschließung der Werke von Elie Wiesel findet sich in dem Aufsatz "Für eine Gesamtedition der Werke Elie Wiesels" von Reinhold Boschki und Daniel Krochmalnik hier zum download