Angewandte Kriminologie
Mit der Angewandten Kriminologie sollen erfahrungswissenschaftlich fundierte Erkenntnisse der kriminologischen Grundlagenforschung für die Beurteilung des konkreten Einzelfalles in der angewandten Forschung unmittelbar nutzbar gemacht werden. Aufbauend auf den Erkenntnissen der Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung und auf der Erfahrung aus einer Vielzahl forensisch-psychiatrischer bzw. kriminalprognostischer Gutachten für die Strafrechtspraxis wurde bereits in den 70er Jahren von Hans Göppinger eine spezifische kriminologische Methode zur differenzierten Erfassung des individuellen Täters in seinen sozialen Bezügen entwickelt. Nach jahrelanger Erprobung dieser Methode bei der Beurteilung von Straftätern, einer ständigen Verbesserung im Sinne einer möglichst einfachen Handhabung sowie der Überprüfung ihrer Zuverlässigkeit und Gültigkeit bei der Anwendung durch verschiedene Untersucher wurde diese Vorgehensweise schließlich Mitte der 80er Jahre als Methode der idealtypisch-vergleichenden Einzelfallanalyse einem breiteren Publikum vorgestellt.
Dem Instrumentarium liegt die Erkenntnis zugrunde, dass der Lebensstil und bestimmte Aspekte des Sozialverhaltens eine Aussage über den Stellenwert der Delinquenz im Leben des betreffenden Menschen, um dessen Erfassung und ggf. Begutachtung geht, und zugleich, im Rahmen der natürlich generell begrenzten Möglichkeiten zur Vorhersage menschlichen Verhaltens überhaupt, eine prognostische Einschätzung der Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten erlauben. Trotz dieser selbst gewählten Beschränkung der Aussage reicht eine solche Einschätzung eines Menschen für die Zwecke der Praxis (v.a. Jugendstrafrechtspflege, Strafjustiz, Strafvollstreckung und Strafvollzug, Gnadenwesen, aber bspw. auch Hilfen nach §§ 27ff. KJHG) völlig aus. Zu den (letzten) Ursachen dieses Lebenszuschnitts und der Delinquenz an sich kann dabei folgerichtig und soll auch bewusst nicht Stellung genommen werden. Dem wird im Rahmen der fortlaufenden Grundlagenforschung weiter nachgegangen.
Mit dem Instrumentarium der Angewandten Kriminologie bekommen auch Praktiker (u.a.) in den oben angesprochenen Handlungsfeldern ein Hilfsmittel nur, aber immerhin, für die erste Einschätzung und, je nachdem, ggf. auch abschließende Bearbeitung und Entscheidung von Alltagsfällen an die Hand. Aufgrund entsprechender Schulung und damit Vertiefung der eigenen Sachkompetenz können sie ggf. den Einzelfall, also den individuellen "Täter in seinen sozialen Bezügen", kriminologisch erfassen und beurteilen; darin eingeschlossen ist die erhöhte Kompetenz, auf Fälle aufmerksam zu werden, in denen es auf psychologische oder psychiatrische Fachkenntnisse im Sinne des Sachverständigenbeweises ankommt.
Die derzeitigen Bestrebungen zielen, auch im Rahmen von Sachverständigengutachten namentlich für die erkennenden Gerichte, die Vollstreckungs- bzw. Vollzugsgerichte, die Vollzugsbehörden und die für Begnadigungen aller Art zuständigen Behörden, auf eine weitere Differenzierung dieses Instrumentariums, beispielsweise im Hinblick auf (reine) Gewalttäter, Betrüger, Sexualstraftäter usw.
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Veröffentlichungen
[in aufsteigender zeitlicher Reihenfolge]
Göppinger, H. (unter Mitarbeit von M. Bock, J.-M. Jehle, W. Maschke): Der Täter in seinen sozialen Bezügen. Ergebnisse aus der Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung. Berlin u.a.: Springer 1983, 258 Seiten.
Bock, M.: Kriminologie als Wirklichkeitswissenschaft. Berlin: Duncker & Humblot 1984, 142Seiten.
Göppinger, H. (unter Mitarbeit von W. Maschke): Angewandte Kriminologie. Ein Leitfaden für die Praxis. Berlin u.a.: Springer 1985, 228 Seiten.
Göppinger, H. (unter Mitarbeit von M. Bock, J.-M. Jehle, W. Maschke): Life Style and Criminality. Basic Research and its Application: Criminological Diagnosis and Prognosis. Berlin u.a.: Springer 1987, 303 Seiten.
Göppinger, H.: Angewandte Kriminologie als Fundament einer selbständigen Wissenschaftsdisziplin Kriminologie. In: Göppinger, H. (Hrsg.). Angewandte Kriminologie - International. 36. Internationale Kriminologische Forschungswoche. Bonn: Forum Verlag Godesberg 1988, S. 12-18.
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Kerner, H.-J.: Jugendkriminalität, Mehrfachtäterschaft und Verlauf. Betrachtungen zur neueren quantitativ orientierten Forschung, mit besonderer Rücksicht auf die Beendigung sog. krimineller Karrieren. Bewährungshilfe 36, Nr. 3, 1989, S. 202-220.
Kerner, H.-J.: Kriminologische Kriterien für eine individualpräventive Sanktionsentscheidung. In: Jehle, J.-M. (Hrsg.): Individualprävention und Strafzumessung. Jehle. Wiesbaden: Eigenverlag der Kriminologischen Zentralstelle 1992, S. 209-239.
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Kerner, H.-J.: Theoriebezüge von Grundlagenforschung und anwendungsorientierter Forschung in der Kriminologie. In: Bora, A., Liebl, K. (Hrsg.): Theoretische Perspektiven rechtssoziologischer und kriminologischer Forschung. Frankfurt, New York: Campus 1994, S. 85-104.
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Kerner, H.-J., Weitekamp, E. G. M. (Hrsg.): Kriminologische Verlaufs- und Kohortenforschungen. Eine Bibliographie. Tübingen: Tobias-Lib 2004, 372 Seiten. (Tübinger Schriften und Materialien zur Kriminologie –TÜKRIM - Band 4) http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:21-opus-10996].
Stelly, W., Thomas, J.: Kriminalität im Lebenslauf. Eine Reanalyse der Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung. Tübingen: TOBIAS-lib 2005, 296 Seiten (Tübinger Schriften und Materialien zur Kriminologie, Band 10). [ISBN-Druck nach Bedarf. Die elektronische Fassung ist über das Portal des Instituts bzw. unmittelbar unter folgender Adresse verfügbar: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:21-opus-20785].
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Wulf, R., Reich, K.: Kindeswohlprognose. Ein kriminologischer und viktimologischer Beitrag. Kindschaftsrecht und Jugendhilfe 7/8, 2007, S. 266-268.
Göppinger, H. (Begr.), Bock, M. (Hrsg.): Kriminologie. 6. vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. München: C.H. Beck 2008. (Bearbeiter: M. Bock, H.-L. Kröber, H. Brettel, W. Maschke, H. Schneider, P. Münster, F. Wendt). Insbesondere 4. Teil, Angewandte Kriminologie, S. 248-344.
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Kerner, H.-J.: Was hilft wirklich, Straftaten und Rückfälle zu vermeiden? In: Franz Riklin /Bettina Merz (Hrsg.): Strafe muss sein…..Wie viel Strafe braucht der Mensch? Bern: Stämpfli Verlag 2011, S. 61-86.
Kerner, H.-J.: Überlegungen zu einer differenzierten Rückfallforschung: Das Beispiel Jugendstrafvollzug. In: Forum Strafvollzug 62, Heft 6, 2013, S. 354-357.
Stelly, W., Thomas, J.: Brüche und Kontinuitäten "krimineller" Entwicklungsverläufe. In: Gahleitner, S. B., Hahn, G. (Hg.): Übergänge gestalten, Lebenskrisen begleiten, Bonn 2011, Psychiatrie-Verlag.
Bock, M.: Angewandte Kriminologie – ein Leseband. Mainz: Institut für angewandte Kriminologie 2017.
Bock, M.: Kriminologie. Für Studium und Praxis. 5. Neu bearbeitete Auflage, München: Verlag Franz Vahlen 2019. Dort besonders § 6 zu „Der Täter in seinen sozialen Bezügen“, und 3. Teil zu „Angewandte Kriminologie“.