Die deutsche Justiz hat über vier Jahrzehnte bis in die jüngste Vergangenheit Strafverfahren gegen Personen geführt, die sich an den Euthanasie-Verbrechen im Nationalsozialismus beteiligt haben. Die in diesen Verfahren gefällten Urteile analysiert Anika Burkhardt in ihrer Dissertation. Dabei wird neben einer detailreichen Beschreibung der Abläufe und Formen des organisierten Tötungssystems ein eingehender Einblick in den unterschiedlichen Umgang der Nachkriegs-Rechtsprechung mit einem der größten Verbrechenskomplexe des Dritten Reichs geliefert.
Untersucht werden 35 Euthanasie-Verfahren, die im Zeitraum von 1946-1988 vor ost- und westdeutschen Gerichten geführt wurden. Angeklagt waren 151 Personen, von denen 74 rechtskräftig freigesprochen und 77 rechtskräftig abgeurteilt wurden. Das verhängte Strafmaß reicht von der Todesstrafe bis zu kurzzeitigen Freiheitsstrafen.
Die Arbeit ist in vier Teile gegliedert. Im ersten Teil werden die verschiedenen Formen der Euthanasie im Dritten Reich (Aktion T 4, Kindereuthanasie und wilde Euthanasie) kurz vorgestellt sowie die an der Durchführung beteiligten Personen verschiedenen Tätergruppen zugeteilt. Anschließend werden die theoretischen Wurzeln des Gedankens der Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ und der rechtliche Rahmen des nationalsozialistischen Euthanasie-Programms aufgezeigt.
Im zweiten Teil der Arbeit wird die systematische Durchführung der Aktion T 4, der Kindereuthanasie und der wilden Euthanasie anhand der angeklagten Tathandlungen aufgearbeitet. Dabei wird neben den tatsächlichen Feststellungen der einzelnen Euthanasie-Urteile auch die historische Literatur ausgewertet.
Der dritte Abschnitt befasst sich mit den verfahrensrechtlichen Fragestellungen, die sich bei der Aburteilung der nationalsozialistischen Euthanasie-Verbrechen ergaben.
Den Kern der Untersuchung bildet der vierte Teil, in dem die materiell-rechtlichen Probleme der juristischen Aufarbeitung des Euthanasie-Unrechts erörtert werden. Auf der Tatbestandsebene wird neben dem Problemkreis der Beteiligungsform die Frage nach der anzuwendenden Rechtsgrundlage aufgeworfen. Die Tötung von geistig kranken und körperlich behinderten Personen im Rahmen des nationalsozialistischen Euthanasie-Programms konnte sowohl nach dem deutschen Strafgesetzbuches als Mord (§ 211 StGB) oder Totschlag (§ 212 StGB) oder aber nach dem alliierten Kontrollratsgesetz Nr. 10 als Verbrechen gegen die Menschlichkeit geahndet werden. Problematisiert wird zudem, ob das verfassungsrechtlich verankerte Rückwirkungsverbot bei der Aburteilung der Euthanasie-Verbrechen hinreichend Berücksichtigung fand.
Auf der Ebene der Rechtswidrigkeit wird herausgearbeitet, dass der Erlass Hitlers, mit dem dieser die beiden Euthanasie-Funktionäre Brandt und Bouhler zur Durchführung der Aktion T 4 ermächtigte, von keinem Gericht als wirksame Ermächtigungsgrundlage für die Euthanasie-Taten angesehen wurde. Diskutiert wird, ob dieses Ergebnis, das im Wesentlichen durch einen Rückgriff auf übergesetzliches Naturrecht erreicht wurde, mit den im Dritten Reich herrschenden staatsrechtlichen Verhältnissen vereinbar ist.
Ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit bildet auf der Ebene der Schuld der unter dem Stichwort „Unrechtsbewusstsein im Unrechtsstaat“ bekannte Einwand vieler Angeklagten, sie hätten die Rechtswidrigkeit der Tötungen nicht erkennen können.
Abschließend wird die sog. „Widerstandsproblematik“ erörtert. Dabei geht es um die Frage nach der strafrechtlichen Behandlung des Vorbringens einiger Angeklagten, sie hätten nur deswegen am Euthanasie-Programm teilgenommen, um Menschenleben retten zu können. Die Euthanasie-Rechtsprechung legte hierbei den Grundstein für die heute anerkannte Rechtsfigur des übergesetzlichen entschuldigenden Notstands.
Die Arbeit schließt mit einer tabellarischen Übersicht über alle Angeklagte der Euthanasie-Verfahre ab.
Erstgutachten: Prof. Dr. Jörg Kinzig
Zweitgutachten: PD Dr. Ulrike Schittenhelm
Rigorosum: 11. Februar 2014
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