Prof. Dr. Jörg Robert

Tagungsbericht „Komm! ins Offene“ – Hölderlin neu entdecken

Nachwuchstagung am DLA Marbach, 15.-17. Juli 2015

von Marisa Irawan und Fabian Sturm

Die Tübinger Nachwuchstagung, die aus dem Lehrforschungs-Oberseminar von Jörg Robert hervorgegangen ist und in Kooperation mit dem DLA Marbach realisiert wurde, setzte es sich zum Ziel, neue Zugänge zum Werk Hölderlins zu erproben. Dabei präsentierten Tübinger Studierende und DoktorandInnen in Vorträgen die im Oberseminar erarbeiteten Forschungsergebnisse und entwickelten davon ausgehend weiterführende Überlegungen und Thesen. Im Zentrum der Tagung stand das Homburger Folioheft, in das der Dichter zwischen 1802 und 1807 sowohl Reinschriften fertiggestellter Texte als auch neue Konzepte und zahlreiche Umarbeitungen eintrug – und welches die editorische Erschließung an ihre Grenzen stoßen lässt. Vor diesem Hintergrund beschäftigte sich das Symposium mit Fragen zur Textualität und Medialität der Handschriften, aber auch mit dem Hölderlinschen Motivkosmos, theologischen und philosophischen Aspekten (Offenbarung, neue Mythologie) sowie mit Hölderlins Poetologie. Nach der Begrüßung durch Marcel Lepper (DLA/Stuttgart) eröffnete Jörg Robert die Tagung mit einem Überblick über die aktuellen Hölderlin-Unternehmungen in Tübingen; insbesondere hob er die zunehmend intensivere Vernetzung zwischen der Hölderlingesellschaft und der Universität hervor. Die Moderationen der Tagung übernahmen Liliane Weissberg (Philadelphia) und Astrid Dröse (Tübingen).

Der erste Vortrag von Moritz Strohschneider legte die verschiedenen Arten von Umarbeitungen im Folioheft dar und warf die Frage auf, welche Variation des Geschriebenen letztendlich Gültigkeit habe. Basierend auf der Interlinearität der Revisionen schlug er für das Autographenkonvolut den Genette’schen Begriff des Palimpsests vor, der die Gleichwertigkeit aller Schichten berücksichtige. Fabian Sturm beschäftigte sich mit der Medialität des Gedichts Der Einzige im Spannungsfeld von Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Seine These einer „Unsprechbarkeit“ des Hymnenentwurfes, die eine ambige Deutung ermögliche und den Dichter vergöttliche, wurde anschließend lebhaft diskutiert. Christiane Wille beleuchtete aus theologischer und literaturwissenschaftlicher Perspektive die Hymne Patmos unter dem Aspekt der poetischen Schriftauslegung. Die aus der Verbindung von Theologie und Poesie resultierenden Spannungen würden in der Hymne dabei nicht nivelliert, sondern vielmehr herausgestellt und reflektiert. Stephan Kammer (Tübingen/München) richtete in seinem Abendvortrag das Hauptaugenmerk auf die Textgenese des Konvoluts. Als Methode schlug er ein „close non-reading“ des Manuskriptes vor, das die Federproben im Folioheft vor der Frage nach ihrer etwaigen Zeichenhaftigkeit untersuchte. Als paratextueller Schriftbefund werde die Federprobe zum Nullpunkt des Schreibens und lege als Spur einer Medienstörung instabile Schreibszenen offen. Die anschließende Diskussion konzentrierte sich auf die mediengeschichtliche Dimension der Gemachtheit von Texten und die Kontingenz des Geschriebenen.

Den zweiten Tag eröffnete Marie-Helen Klaiber, die die Darstellung des Pfingstfestes in Brod und Wein untersuchte und verschiedene biblische Topoi offenlegte. Aus philosophischer Perspektive stellte Lukas Steinacher Überlegungen zur Offenbarungslogik und poetischen Genesis bei Hölderlin vor. Dabei skizzierte er Aspekte einer Rekonstruktion der Lyrik Hölderlins als Offenbarungstheorie. Florian Rogge beschäftigte sich mit dem Fragment An die Madonna und ging dabei von dem philologischen Befund eines lückenhaften Textes auf mehreren Überlieferungsträgern aus. Das Material zeuge somit von einem stetigen Neu-Ansetzen des Gesangs über die Madonna als weibliches Prinzip und den möglichen Versuchen einer ‚Re-Christianisierung‘ desselben. Timo Stahlkopf fragte nach der geschichtsphilosophischen Dimension der Hymne Germanien, in der Deutschland als Sprach- und Kulturnation erscheint, und die zugleich in einen mythologischen Bezug gesetzt wird zu der Götterwelt Griechenlands. Hölderlins hesperisches Germanien werde dabei als Priesterin – und damit als evolutionäres Prinzip – figuriert. In einem close reading zeigte Gudrun Bamberger die ambivalente Motivik des Feuers bei Hölderlin. Das Feuer erscheine dabei als Leitmotiv im Spannungsfeld von stoischen und christlich-apokalyptischen Konzeptionen. Yuzhong Chen analysierte Hölderlins Verwendung des Hexameters im Archipelagus. Der Hexameter fungiere dabei nicht nur als Metapher für das Meer, sondern bilde als Schaltstelle von Epischem und Hymnischem auch ein Kommunikationsmedium zwischen Menschen und Göttern. Hierauf behandelte Lucas Eigel die Veränderungen in Hölderlins spätem Hymnenstil vor dem Hintergrund der philologischen Debatten um 1800 (C. G. Heyne etc.), indem er in Brod und Wein Referenzen auf die Neu-Entdeckung Pindars als religiösem Lyriker aufzeigte. Hölderlins späte Hymnen erhielten damit den Gestus kultischen Gesangs im Zuge eines zunehmend düsteren Götterbildes. Den zweiten Konferenztag beschloss Elena Polledri (Udine) mit ihrem Abendvortrag zum Dualismus zwischen den ‚Himmlischen‘ und den aorgischen Titanen in Hölderlins später Lyrik. Dieser führe zu einer „Architektonik des Himmels“, die Hölderlins späte Gedichte in ihrem Bezug auf ‚Bauformen‘ poetologisch reflektieren.

Zu Beginn des dritten Konferenztags verglich Florian Neuner den Ästhetik-Begriff bei Schiller und Hölderlin und fragte aus philosophischer Perspektive nach dem Verhältnis von Sprache, Welt und Vermittlung. Dabei stellte er bei Hölderlin einen entscheidenden Einfluss Schillers fest, von dem er die Konzeption des Dichters als Schöpfer übernimmt. Anschließend sprach Selmar Klein, ausgehend von Hölderlins programmatischer Randnotiz „Wie kann ich sagen“ in der Hymne Heimkunft, über Sprachskepsis im Homburger Folioheft. Die Fragen nach der (sprachlichen) Darstellung des Absoluten und der gemeinschaftsstiftenden Funktion des Gesangs bewögen Hölderlin zu neuen poetologischen Reflexionen. Anne Renner widmete sich den auktorialen Selbstreflexionen und -inszenierungen im Homburger Folioheft. Der Dichter erscheine gleichsam als inspiriertes Medium wie auch als meta-prophetischer Analyst, der die Offenbarung nicht nur verkündet, sondern auch in ihren Entstehungsbedingungen reflektiert. Den Abschluss des letzten Konferenztages machte Sarah Gaber, die sich mit der Diotima-Dichtung beschäftigte und die Identifizierung von Diotima und Susette Gontard kritisch hinterfragte. Statt biographischer Ineinssetzung von historischer Person und literarischer Figur sei vielmehr ein poetologisches ‚Diotima-Prinzip‘ stark zu machen, das in Gontard zwar eine lebensweltliche Entsprechung findet, aber auch unabhängig von dieser bestehen konnte und kann.

In ihren Schlussworten zeigten sich Jörg Robert, Stephan Kammer und Elena Polledri beeindruckt von dem methodischen und disziplinären Facettenreichtum der Tagungsrunde und bündelten die zahlreichen neuen Lesarten zu dem Fazit: Hölderlin wurde auf dieser Nachwuchstagung – in der Tat gleich mehrmals – neu entdeckt.

Tagungsbericht als PDF

Fotos: Cornelia Pierstorff