Internationaler interdisziplinärer Workshop „Un/doing gender, un/doing religion. Lokale Praktiken der Religion und des Geschlechts in der postsäkularen Weltgesellschaft“
16.-18. Juni 2021
Trotz der weltweiten Etablierung von Gleichberechtigungsnormen sowie einer zunehmenden De-Institutionalisierung des Geschlechterverhältnisses haben sich Vorstellungen einer tradi-tionellen Geschlechterordnung im Kontext (verschiedener) Religionen als erstaunlich hart-näckig erwiesen. Auf der einen Seite fungiert Religion zwar in Folge von Säkularisierungs- und Modernisierungsprozessen immer weniger als kulturelle Determinante gesellschaftlicher Geschlechterverhältnisse, und die Lebenswege und Lebenslagen von Frauen und Männern haben sich in vielerlei Hinsicht empirisch angeglichen. Auf der anderen Seite entzünden sich aber in der (post-)säkularen Weltgesellschaft zahlreiche Konflikte rund um das Thema „Ge-schlecht und Religion“: Im internationalen Menschenrechtsdiskurs kollidieren z.B. seit den 1990er Jahren regelmäßig Forderungen nach Frauenrechten bzw. Rechten für sexuelle und geschlechtliche Minderheiten mit religiös begründeten Traditionen. Hier agieren Vertreter der Katholischen Kirche gemeinsam mit Evangelikalen Rechten und fundamentalistisch ori-entierten muslimischen Staaten gegen die sog. „Gender-Ideologie“ und für die heterosexuel-le Ehe und Familie als „natural and fundamental group unit of society“.
Und auch auf nationaler bzw. lokaler Ebene entzünden sich an der Geschlechterdifferenz erhebliche Konflikte in verschiedenen religiösen Kontexten: So wird in der Katholischen Kirche nach wie vor um den Zugang für Frauen zu geistlichen Ämtern und Leitungsfunktio-nen gerungen (Maria 2.0), in den Gliedkirchen der EKD streitet man darüber, ob gleichge-schlechtliche Paare getraut oder gesegnet werden dürfen, und es gibt nach wie vor Debatten unter traditionalistisch orientierten Muslim*innen, die von einer Ungleichheit zwischen den Geschlechtern ausgehen. Darüber hinaus hat sich die Situation in Deutschland in den ver-gangenen Jahren in Folge der zunehmenden Anzahl geflüchteter Menschen aus muslimi-schen Ländern noch einmal verändert und Debatten über religiöse und kulturelle Unterschie-de bzgl. der Sexualmoral ausgelöst. Überdies verschwimmen in den öffentlichen Selbst- und Fremdbeschreibungen religiöse und ethnische Grenzziehungen zunehmend, was zu weiteren Politisierungen und Intensivierungen der Konflikte führt.
Vor dem Hintergrund dieser Debatten interessieren wir uns für die alltäglichen sozialen Praktiken, mit denen religiöse und geschlechtliche Zugehörigkeit hergestellt werden, sich überlagern oder auch wechselseitig neutralisieren. Die beiden Personenkategorien Ge-schlecht und Religion werden hierbei nicht als vorgegebene oder feststehende kategoriale Unterscheidungen, sondern kulturell und historisch kontingente Formen sozialer Differenzie-rung verstanden. Damit knüpfen wir sowohl an praktisch-theologische Arbeiten zur alltägli-chen lebensweltlichen Praxis von Religion („lived Religion“) als auch an die soziologische Forschung zu Humandifferenzierungen an. Die Veranstalter*innen, eine Gruppe von Theo-log*innen und Soziolog*innen in Tübingen sind über das Thema „Un/doing Gender. Un/doing Religion. Gelebte Vielfalt von Glaube und Geschlecht?“ seit einiger Zeit im Ge-spräch und planen gemeinsame Forschungsprojekte mit ethnografischen Analysen zu den Zusammenhängen von Geschlecht und Religion in ausgewählten sozialen Situationen (Hei-rat, Gottesdienst, Jugendarbeit) in katholischen, evangelischen und muslimischen Settings sowie im Rahmen politisch konnotierter Begegnungen (Christopher Street Day) und in Dis-kursen der internationalen Politik.
Die intendierten Projekte basieren auf einer praxistheoretischen Perspektive, aus der nicht nur die Geschlechtszugehörigkeit, sondern auch Religion als kontingente und sozial konstru-ierte Form sozialer Mitgliedschaft analysiert werden kann. Während eine solche konstrukti-vistische Perspektive in Bezug auf die Geschlechterdifferenzierung in den Sozialwissen-schaften bereits seit längerem üblich ist (un/doing gender), wird Religion dagegen kaum als Form kategorialer Zugehörigkeit analysiert, sondern eher als eigenständiger sozialer Wirk-lichkeitsbereich bzw. soziales Feld. Geschlecht wird in den Sozialwissenschaften also eher als Form der personalen Differenzierung behandelt und Religion als sachliche Dimension der Differenzierung. Aus dieser Perspektive lässt sich dann jedoch immer nur nach den unter-schiedlichen Geschlechterverhältnissen innerhalb eines bestimmten religiösen Kontexts fra-gen, also z.B. nach der Geschlechterordnung im Islam oder im Christentum. Damit wird Re-ligion unhinterfragt zur unabhängigen Variable bestimmt. Was genau allerdings das soziale Feld der Religion ausmacht, ist keineswegs selbstverständlich, zumal spätestens seit den 1980er Jahren eine zunehmende Entgrenzung des religiösen Felds beschrieben wird. Ent-sprechend wird Religion in den Sozialwissenschaften sowie der Praktischen Theologie zu-nehmend konzeptionell offener angelegt und der Fokus verschiebt sich auf die beobachtbare Vollzugswirklichkeit von Glauben und Religion.
Nimmt man praxistheoretische Überlegungen zu Humandifferenzierungen ernst, finden reli-giöse und geschlechtliche Zugehörigkeiten gleichzeitig statt, können sich überlagern, gegen-seitig verstärken oder auch neutralisieren, und es ist letztlich eine empirische Frage, in wel-chen Situationen welche Form der Zugehörigkeit aktualisiert wird (doing gender/religion), latent bleibt (undoing gender/religion) oder aber miteinander interferiert (doing gen-der/religion through doing religion/gender). Interessante und bislang in der sozialwissen-schaftlichen Forschung kaum behandelte Fragen hierzu betreffen die Beobachtbarkeit religi-öser Praktiken als soziale Zugehörigkeit: Was bedeutet doing religion und welche Formen von Ausprägungen von Religionszugehörigkeit sind hierbei denkbar bzw. lassen sich be-obachten? Werden hier die Angehörigen verschiedener Religionen unterschieden (Muslime, Christen, Juden etc.), verschiedene konfessionelle Zugehörigkeiten (evangelisch/katholisch) oder vielleicht eher religiös Gläubige von Agnostikern, Atheisten und religiös Indifferenten? Auf der Basis welcher Merkmale erfolgen religiöse Zuschreibungen und inwiefern sind hier-bei z.B. auch ethnische Zugehörigkeiten relevant? Welche Glaubensressourcen werden auf welche Weise aktualisiert oder negiert?
Über diese Fragen würden die Veranstalter*innen gerne mit ausgewählten soziologischen und theologischen KollegInnen im Rahmen eines interdisziplinären Workshops diskutieren und damit gleichzeitig die Grundlage für einen zukünftigen wissenschaftlichen Austausch und etwaige Kooperationen schaffen.