AIWG- Forschungsgruppe: Mit dem Propheten Muhammad ins Gespräch kommen? Der Hadith zwischen Lebensbedeutsamkeit und Diskrepanz in Geschichte, Theologie und Pädagogik (Projektlaufzeit: 01.01.2024 – 30.06.2027)
An der Professur für Hadith-Studien und Prophetische Tradition in Tübingen unter der Leitung von Prof. Dr. Ruggero Vimercati Sanseverino und Mitarbeit von Hossam Ouf und Besnik Sinani wird seit dem 01.01.2024 das Projekt „Mit dem Propheten Muhammad ins Gespräch kommen? Der Hadith zwischen Lebensbedeutsamkeit und Diskrepanz in Geschichte, Theologie und Pädagogik“ durchgeführt. Das Vorhaben wird gemeinsam mit Prof. Dr. Yașar Sarıkaya und Mitarbeit von Patrick Brooks von der Justus-Liebig-Universität Gießen und Prof. Dr. Mohammad Gharaibeh und Mitarbeit von Mustafa Cetinkaya von der Humboldt-Universität zu Berlin im Rahmen der Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft (AIWG) umgesetzt und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert.
Die AIWG-Forschungsgruppe beschäftigt sich mit den überlieferten Zeugnissen der prophetischen Verkündigung (Hadith) und fragt nach ihrer Bedeutsamkeit für Muslim_innen als Medium einer dialogischen Begegnung mit dem Propheten Muhammad. Trotz der Dominanz der Authentizitätsproblematik in zeitgenössischen muslimischen Diskursen und der damit einhergehenden „Vertrauenskrise gegenüber der kanonischen Kultur“ (J. Brown 2014), spielen Hadithe in der Praxis des Glaubensvollzugs immer noch eine erhebliche Rolle. Insofern Hadithe immer auch vor dem Hintergrund bestimmter Prophetenbilder rezipiert werden, stellen sie einen Bezug zur Person des Propheten her, der für Rezipient_innen als lebensbedeutsam und transformierend wahrgenommen werden kann. Um diese in der Forschung bisher unterbelichtete Erfahrungsdimension des Hadith zu verstehen und theologisch-pädagogisch fruchtbar zu machen, wird in diesem Projekt der Zusammenhang zwischen der dialogischen Funktion des Hadith und der Artikulation von Prophetenbildern historisch, hermeneutisch und didaktisch untersucht.
Dafür sollen in dem Projekt folgende Leitfragen geklärt werden:
Inwiefern stellen Hadithe in Religiosität, in Geschichte und Gegenwart sowie in Lehr- und Lernprozessen ein Medium für eine dialogische Begegnung mit dem Propheten Muhammad dar, die als orientierungs- und sinnstiftend erfahren werden kann?
Welche hermeneutischen und pädagogisch-didaktischen Möglichkeiten gibt es für die Islamische Theologie und Religionspädagogik, zugleich kritisch und konstruktiv mit der Diskrepanz umzugehen, die sich zwischen dem identitätsstiftenden Potenzial von Hadithen und den Anforderungen sich wandelnder Lebenswelten ergeben kann?
Das von diesen Fragestellungen ausgehende Forschungsvorhaben wird interdisziplinär anhand von vier Teilprojekten, die sich auf drei Standorte verteilen, durchgeführt:
In Tübingen wird unter der Leitung von Prof. Vimercati Sanseverino untersucht, wie die Resonanzqualität des Hadith mit dem darin implizierten Prophetenbild zusammenhängt und unter welchen hermeneutischen Bedingungen sich aus diesem Zusammenhang das sinn- und orientierungsstiftende Potenzial des Hadiths erschließt bzw. sich eine Diskrepanz zu zeitgenössischen Lebenswelten ergibt, die eine solche Erschließung beeinträchtigt. Dazu gehört 1) eine Analyse der Artikulation von Identitäts- bzw. Alteritätsdiskursen anhand von Prophetenbildern in der zeitgenössischen Sira-Literatur (narrativ-heilsgeschichtliche Darstellung vom Leben und Wirken des Propheten Muhammad) (Besnik Sinani) und 2) eine kritische Erörterung des muškil al-ḥadīṯ Ansatzes, also des theologischen Umgangs mit sog. „problematischen“ bzw. „kontroversen“ Hadithen, und die Erkundung eines zeitgemäßen Umgangs hiermit (Hossam Ouf).
Am Standort Berlin wird unter der Leitung von Prof. Gharaibeh eruiert, wie 3) diese erfahrungsbezogene und identitätsstiftende Funktion des Hadith mit der historischen Entwicklung der literarischen Gestalt von Hadithsammlungen und der darin implizierten Artikulation von Prophetenbildern zusammenhängt und welche Rolle insbesondere die kontextbezogene Hadith-Exegese (asbāb al-wurūd) hierfür gespielt hat (Mustafa Cetinkaya).
Schließlich wird in Gießen unter der Leitung von Prof. Sarıkaya nach 4) der Rolle und Funktion der dialogischen Erfahrungsdimension des Hadith in Lehr- und Lernprozessen in Schule und Gemeinde gefragt (Patrick Brooks).
Projektziel
Das Projekt verfolgt das Ziel, zum einen zu verstehen, welche Prophetenbilder bei der Rezeption von Hadithen in unterschiedlichen Kontexten, dem interpretierenden und kritischen Bezug auf sie, bestimmend sind bzw. gleichzeitig generiert werden. Zum anderen soll eruiert werden, inwiefern und unter welchen theologischen Voraussetzungen Hadithe sich dafür anbieten, Leser_innen in ein sinn- und identitätsstiftendes Gespräch mit dem Propheten zu involvieren und wann ein solches Gespräch beeinträchtigt oder gar unmöglich wird. Es gilt also zu verstehen, unter welchen Voraussetzungen die Lebensbedeutsamkeit von Hadithen erschließbar und vermittelbar sein kann.