Center for Islamic Theology

Forschungsinterview mit Abdullah Rıdvan Gökbel

In der aktuellen Ausgabe der Nah(P)ost (Wintersemester 2024/25), der geisteswissenschaftlichen Studierendenzeitschrift der Universität Heidelberg, führte der Herausgeber Bera Mustafa Öztaş ein aufschlussreiches Forschungsinterview mit Abdullah Rıdvan Gökbel, M.A. Im Mittelpunkt des Gesprächs steht die Wahrnehmung des Christentums durch osmanische Gelehrte des 16. Jahrhunderts.

Gökbel war von 2022 bis 2024 wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-geförderten Projekt Argument from Scripture unter der Leitung von Prof. Dr. Lejla Demiri und arbeitet derzeit an seiner Promotion am Zentrum für Islamische Theologie in Tübingen. Sein besonderes Forschungsinteresse gilt Ibn Kemāl (Kemālpaşazāde, gest. 1534), einem der führenden osmanischen Theologen und Rechtsgelehrten seiner Zeit. In seiner Forschung analysiert Gökbel die Wahrnehmung der Bibel und christlicher Traditionen durch muslimische Gelehrte im Osmanischen Reich. Dabei untersucht er insbesondere zahlreiche Rechtsgutachten (fatāwā) und theologische Abhandlungen (risālāt) Ibn Kemāls, die nicht nur juristische Fragen behandeln, sondern auch tiefe Einblicke in die interreligiösen Dynamiken jener Epoche gewähren.

Im Interview schildert Gökbel seinen akademischen Werdegang, der ihn von der 29 Mayıs Universität in Istanbul über Forschungsaufenthalte in Jordanien, Ägypten und Großbritannien bis zu seiner aktuellen Forschungstätigkeit in Deutschland führte. Bereits während seines Masterstudiums an der Universität Istanbul spezialisierte er sich auf die Frühgeschichte des Islam und die christlich-muslimischen Beziehungen jener Zeit. Seine Masterarbeit zu diesem Thema wurde 2020 als Buch veröffentlicht und bildet die Grundlage seiner weiterführenden Forschung. In seiner Dissertation verbindet Gökbel die osmanische Rechtsgeschichte mit modernen interdisziplinären Methoden, um aufzuzeigen, wie muslimische Gelehrte christliche Schriften interpretierten.

Ein zentrales Thema des Interviews ist die Fatwā-Tradition im Osmanischen Reich sowie die Rolle des Şeyhülislām. Besonders bemerkenswert ist Gökbels Hinweis darauf, dass auch Nichtmuslime Fatwās einholen konnten – zwar ohne rechtlich bindende Wirkung, aber als Orientierungshilfe in juristischen Fragen. Seine Forschung zeigt, dass Ibn Kemāl eine differenzierte Haltung gegenüber christlichen Gemeinschaften vertrat: In seinen risālāt argumentierte er, dass der Wiederaufbau oder die Reparatur von Kirchen in überwiegend christlich geprägten Gebieten erlaubt sein sollte, während in mehrheitlich muslimischen Regionen bestimmte Einschränkungen galten. Diese Position spiegelt die pragmatische osmanische Rechtspraxis wider, die sich flexibel an gesellschaftliche Gegebenheiten anpasste.

Auf die Frage nach seinen Zukunftsplänen erklärt Gökbel, dass er nach Abschluss seiner Promotion die osmanische Geistesgeschichte weiter erforschen möchte – insbesondere mithilfe digitaler Methoden zur Analyse islamischer Rechts- und Theologietexte. Er betont die Notwendigkeit, die oft fragmentierte Literatur zu osmanischen Gelehrten systematisch aufzuarbeiten und mit modernen Forschungsansätzen zu verbinden. Mittels digitaler Geisteswissenschaften und Netzwerkanalysen hofft er, größere Zusammenhänge innerhalb der osmanischen Rechts- und Theologiegeschichte sichtbar zu machen und der historischen Forschung eine neue methodische Grundlage zu geben.

Das Interview bietet einen tiefgehenden Einblick in ein faszinierendes Forschungsfeld, das historische, juristische und interreligiöse Fragestellungen miteinander verknüpft. Zugleich unterstreicht es die zentrale Bedeutung osmanischer Gelehrter wie Ibn Kemāl für das Verständnis des multireligiösen Miteinanders im Osmanischen Reich.

Das vollständige Interview ist in der Nah(P)ost (S. 72–78) nachzulesen.

Die aktuelle Ausgabe sowie frühere Ausgaben der Nah(P)ost, der geisteswissenschaftlichen Studierendenzeitschrift der Universität Heidelberg, sind hier abrufbar.