Uni-Tübingen

Teilprojekt D im Zusatzverbund: Bedrohung und gesellschaftliche Ordnung im postrevolutionären Ägypten

Abstract

Im Kontext der postrevolutionären Entwicklungen in Ägypten soll das Verhältnis von Bedrohungsrepräsentationen und emergenten Vorstellungen einer guten und gerechten politischen sowie gesellschaftlichen Ordnung untersucht werden. In diesem Zusammenhang wird gefragt, welche Rolle Bedrohungsszenarien für die Herstellung einer pluralistischen politischen Ordnung im postrevolutionären Ägypten spielen. Aufgrund der Ereignisse am Tahrir-Platz, am Präsidentenpalast und am Rabaa al-Adawiya Platz, an welchen sich Ordnungsvorstellungen und Bedrohungsszenarien zu manifestieren scheinen, soll ein besonderer Fokus auf die Kategorie Raum gelegt werden. Dieser Fragestellung soll ethnografisch, mit qualitativen Interviews und anhand der Auswertung ereigniszentrierter Internetkommunikation nachgegangen werden.

Projektteam

Projektleitung:

Prof. Dr. Boris Nieswand

Mitarbeiterin:

Nora Ateia

Fachgebiete und Arbeitsrichtung

Soziologie

Projektbeschreibung

Forschungsstand und eigene Vorarbeiten

Nachdem sich im Januar 2011 die Proteste, die schließlich zum Sturz Mubaraks führten, auf den Tahrir-Platz zentrierten, ist der Tahrir-Platz in das Zentrum internationaler Berichterstattung geraten. Doch vor allem wurde er zur Schaltstelle lokaler Dynamiken mit Auswirkungen auf nationale und transnationale Entwicklungen. Repräsentativ entstand am Tahrir-Platz eine politische Öffentlichkeit, innerhalb derer bereits existierende Gruppierungen, wie die Muslimbruderschaft, in neuen Rollen agierten, aber sich auch neue politische Akteure formierten, wie beispielsweise Ultra-Fußballfans (Nordhausen und Schmid 2011).

Charakteristisch für die emergente soziale und politische Ordnung auf und um den Tahrir-Platz ist, dass diese nicht von einheitlichen politischen und sozialen Vorstellungen und Zielen getragen wird, sondern dass dort vielmehr überlappende und gestufte Verhältnisse von Konsens und Dissens ausgehandelt werden (Rawls 1987; Nieswand 2011a). Bedrohungsszenarien, wie Islamisierung oder die Hegemonie westlicher Mächte, der Rückfall in autoritäre Strukturen oder der Zerfall öffentlicher Ordnung, spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle.

Aufgrund der hohen Aktualität und der zeitlichen Nähe der Ereignisse entstehen nach wie vor unzählige Berichte und Artikel, die das Geschehen darstellen und unter verschiedenen Gesichtspunkten analysieren und beleuchten. Auch sind bereits einige politikwissenschaftliche Publikationen entstanden, welche jedoch vor allem einen deskriptiven Charakter haben oder die Ereignisse historisch kontextualisieren (vgl. Cook 2012). Eine eingehende soziologische und sozialtheoretische Reflexion der politischen Prozesse steht jedoch erst ganz am Anfang. Insbesondere die soziale Ordnung der unübersichtlichen und sehr dynamischen Prozesse auf und um den Tahrir-Platz sowie deren Zusammenhang mit größeren politischen Entwicklungen ist bisher unzureichend sozialwissenschaftlich beschrieben und aufgearbeitet worden. Dabei sind insbesondere ethnografische Vorgehensweisen und narrative sowie teil-strukturierte Interviews mit an den Protesten in unterschiedlichen Funktionen beteiligten Akteuren wichtig, um Zusammenhänge und Strukturen zunächst einmal zu explorieren und sie im Anschluss daran analytisch aufzuarbeiten.

Der Projektleiter hat vor allem theoretische Vorarbeiten vorzuweisen. Er hat sich intensiv mit dem Verhältnis von Lokalisierung und Delokalisierung sozialer Ordnung im Kontext von Transnationalisierungsprozessen beschäftigt (Nieswand 2011b). Grundlagentheoretische Überlegungen zur Konstitution sozialer bzw. politischer Ordnung finden sich insbesondere in seinen Arbeiten zum soziologischen Fremdheitsbegriff (Nieswand und Vogel 2000) und zur Herstellung politischer Öffentlichkeit unter ghanaischen Migranten in Deutschland (Nieswand 2011a). Seine fehlende linguistische und lokale Expertise wird durch die vorgesehene Bearbeiterin kompensiert. Nora Ateia bringt aufgrund ihrer Vertrautheit mit Ägypten und ihrer Arabischkenntnisse beste Voraussetzungen für dieses Projekt mit. Darüber hinaus hat sie die Revolution von Anfang an in Kairo miterlebt und war bei vielen der darauffolgenden Ereignisse auf und um den Tahrir-Platz persönlich anwesend. Die einschlägige Literatur und wichtige Feldzugänge hat sie sich bereits im Kontext ihrer Magisterarbeit im Fach Soziologie mit dem Titel „Protest und Alltag im postrevolutionären Ägypten. Eine ethnografische Studie“ erarbeitet.

Ziele, Vorhaben, Arbeitsplan

Im Zusammenhang mit den postrevolutionären Entwicklungen wird davon ausgegangen, dass die Veränderungsprozesse in Ägypten durch die Interaktion und Konkurrenz verschiedener Ordnungsvorstellungen geprägt werden, die sich im Zentrum Kairos und auf dem Tahrir-Platz manifestieren und gleichzeitig von der lokalen Dynamik verändert werden. Nicht zuletzt aufgrund der Fragilität der postrevolutionären Situation und der offensichtlichen Kontingenz der neuen politischen Ordnung sind Bedrohungsszenarien und deren Emotionalisierung durch verschiedene Interessensgruppen eine wichtige Ressource politischer Mobilisierung. Dabei wird die „Figur der Bedrohung“ als Kommunikationsform verstanden, mit der u.a. Risiken, Ängsten und Autonomieverlusterfahrungen eine soziale Form und Richtung gegeben werden kann. Konstruktionen und Dekonstruktionen, das Aufgreifen und Fallenlassen, die politische Kontrolle und die Eigendynamik von Bedrohungsszenarien sind in diesem Sinne ein wichtiger Faktor im Prozess der politischen Neuordnung der ägyptischen Gesellschaft. Das Verhältnis von Ordnungsbildung und Bedrohungsszenarien soll vor allem aus zwei auch für den Gesamtkontext des Zusatzverbunds bedeutsamen Perspektiven untersucht werden.

Räumliche Dynamiken: Charakteristisch für die ägyptische Revolution und die politischen Prozesse in deren Anschluss ist eine ausgeprägte lokale Fokussierung der nationalen Proteste und der globalen Aufmerksamkeit auf das Regierungsviertel und den daran angrenzenden Tahrir-Platz, der zum zentralen Ort und Symbol der ägyptischen Revolution geworden ist. Obwohl die Zeit der dramatischsten Umbrüche in Ägypten (vermutlich) vorbei ist, bleibt allem Anschein nach das Zentrum Kairos mit dem Tahrir-Platz auch im postrevolutionären Ägypten weiterhin bedeutsam als Ort der öffentlichen Kommentierung des politischen Geschehens und als ein Ort, der verspricht, dass von ihm aus Einfluss auf den Gang der Dinge genommen werden kann. Die sozialen und zeitlichen Verdichtungen und die körperliche Nähe unterschiedlichster Gruppierungen auf dem Tahrir-Platz und im Zentrum Kairos kreieren besondere soziale Bedingungen für die Verbreitung von Bedrohungsszenarien, die von konkreten Gewalterfahrungen bis hin zu Gerüchten und Verschwörungstheorien gehen können. Neben einem Treffpunkt von Menschen und Gruppierungen mit unterschiedlichen politischen Ansichten und Zielen ist der Tahrir-Platz gleichzeitig auch ein hotspot translokaler Vernetzung und Kommunikation. Mobiltelefone, Fernsehübertragungen und Internetkommunikation transportieren die lokalen Ereignisse synchron in eine globale Öffentlichkeit, von der aus wiederum Rückwirkungen auf lokale Ereignisse ausgehen können. Nicht zuletzt gilt es in diesem Zusammenhang, die transnationale Rolle der großen ägyptischen Diaspora, die online, durch finanzielle Unterstützung und durch Besuchsreisen Einfluss auf die Prozesse zu nehmen sucht, genauer zu betrachten. Dem Verhältnis zwischen der lokalen Interaktion auf und um den Tahrir-Platz, nationaler und transnationaler Beziehungsnetzwerke und globaler elektronischer Vernetzung soll für den Fall von Bedrohungskommunikation ethnografisch nachgegangen werden. In Anlehnung an den SFB 923 wird dabei angenommen, dass die Aushandlung von Bedrohungen auf und um den Tahrir-Patz auf lokale, emotionale und zeitliche Verdichtungen verweisen, die einen methodischen Zugang zu einem allgemeineren Verständnis der politischen Neuordnung Ägyptens ermöglichen. Im Kontext des Zusatzverbunds bieten sich Vergleiche zu den Projekten A–Alex, B–Hardenberg und F–Scheer bezüglich der Dynamiken von Lokalisierung und Delokalisierung an. Insbesondere im Fall der Auseinandersetzungen um „Stuttgart 21“ scheinen sich interessante Vergleichspunkte abzuzeichnen.

Homogenisierung und Pluralisierung: Als Bühne nationaler Politik bietet der Tahrir-Platz politischen Gruppierungen die Möglichkeit zu kollektiver Selbstvergewisserung, politischen Konfliktinszenierungen und sozialer Abgrenzung. Es wird angenommen, dass dies mit komplexen Dynamiken von Homogenisierung und Pluralisierung einhergeht. In diesem Zusammenhang haben Bedrohungskommunikationen und -erfahrungen eine wichtige Funktion für die Konstruktion von Gruppengrenzen. Durch sie gewinnen kognitive politische Differenzierungen eine lebensweltliche Gestalt und die teilweise inkongruenten Realitätsinterpretationen unterschiedlicher Gruppierungen eine emotionale Evidenz. Bedrohungsrepräsentationen im Kontext von Gruppenbeziehungen lassen diee in ihren manifestierenden Differenzen zwischen „uns“ und „den Anderen“ als selbstverständlich gegeben erscheinen. Aufgrund dieser Eigenschaften kann vermutet werden, dass Bedrohungsszenarien auch von politischen Akteuren dazu instrumentalisiert werden, um Politiken der Ein- und Ausgrenzung zu betreiben sowie ihren Einfluss auf die postrevolutionäre politische Neuordnung zu vergrößern. Im Kontext des geplanten Zusatzverbunds bieten sich Vergleiche bezüglich der Auswirkungen von Bedrohungsrepräsentationen und deren Instrumentalisierung auf die Dynamik von Homogenisierung und Pluralisierung, insbesondere zu den Projekten A–Alex, B–Hardenberg, C–Mende, E–Sassenberg und F–Scheer an.

Das Verhältnis zwischen Ordnungsvorstellungen, Bedrohungsszenarien und politischer Dynamik soll mittels teilnehmender Beobachtung, Auswertung von ereignisbezogener Internetkommunikation (z.B. Twitter und Facebook) und anhand von Interviews mit Anhängern ausgewählter Gruppen untersucht werden. Während der Umfang und der Ertrag ethnografischer Fallanalysen stark von dem unvorhersehbaren Verlauf des politischen Geschehens in Ägypten abhängt, soll in den Interviews verstärkt auf die jüngere und jüngste Vergangenheit der Proteste auf und um den Tahrir-Platz eingegangen werden. Als Untersuchungseinheiten soll dabei vor allem auf folgende Gruppierungen fokussiert werden, die sich ethnografisch als relevant herausgestellt haben: Anhänger der Muslimbruderschaft, Anhänger des Mubarak-Regimes, die Fußballfans von al-Ahly, Angehörige der gemäßigten muslimischen Mittelklasse, koptische Christen, Mitglieder von sich neu formierenden Oppositionsgruppen (z.B. ägyptische Feministinnen) und Angehörige der ägyptischen Diaspora. Hier bestehen Anschlussmöglichkeiten zu den Projekten C–Mende und F–Scheer.

Kulturelle Variation und Reflexivität: Auch aus einer kulturvergleichenden Perspektive ist der ägyptische Fall von besonderem Interesse. In dieser Hinsicht soll insbesondere die Frage gestellt werden, ob sich spezifisch islamistische (z.B. von radikaleren Vertretern der Muslimbruderschaft), post-islamistische (z.B. von moderateren Vertretern der Muslimbruderschaft) und anti-islamische Konzeptionalisierungen (z.B. von Kopten) von Ordnungen und Bedrohungen beobachten lassen und in welchem Verhältnis diese zum theoretischen Rahmen des Zusatzverbunds und den europäischen Projekten stehen. In dieser kulturvergleichenden Perspektive gibt es direkte Anknüpfungspunkte an die Projekte von A–Alex und B–Hardenberg.

Projektbezogene Vorträge und Publikationen

Ateia, Nora:

Nieswand, Boris

Tagungen, Workshops, Konferenzen