24.07.2024
Stadt im Kopf
Wie Wahlmuster anhand von ruralen und urbanen Räumen und Einstellungen erklärt werden können.
Die Wahlergebnisse von Bundestags-, Europaparlaments- und Kommunalwahlen weisen räumli-che Muster auf. Zwar variieren sie von Wahl zu Wahl, aber dennoch bleiben die Muster erstaunlich stabil. Es sind immer die gleichen Regionen der international, urban, plural und universitär gepräg-ten Städte einerseits und verschiedene ländliche Räume andererseits, die sich hinsichtlich der Wahlergebnisse unterscheiden. In den urbanen Regionen sind die Grünen vergleichsweise stark, in den ruralen Regionen die extrem rechte AfD und die konservative CDU.
Doch wie lassen sich diese Unterschiede erklären? Die herangezogenen Strukturdaten geben darüber nur bedingt Aufschluss, auch wenn insbesondere die Urbanität, also etwa die Siedlungs-dichte, der Anteil von Ausländer:innen an der Wohnbevölkerung oder der Akademisierungsgrad eine Rolle spielen. Die Befunde verweisen auf regionale Produktions-, Kultur-, Denk- und Einstel-lungsmuster als weitere Faktoren, die die räumlichen Muster erklären können.
Einen theoretischen Zugang zu diesem Phänomen bietet die Unterscheidung zwischen ländlichen und städtischen Gebieten. Ausgehend von Vorüberlegungen von Lefebvre (2013), Förtner et al (2019), Merkel (2019) und Kühne (2016) und anderen erweitern wir die rein physisch-räumliche Dimension der Unterscheidung von städtischen und ländlichen Gebieten und wenden diese Kon-zeption auf die Europawahlergebnisse 2024 in Baden-Württemberg an.
Anders als rein physisch-räumliche Definitionen von städtischen und ländlichen Räumen beziehen wir die mentale Konstruktion dieser Räume und die in diesen Räumen wirkenden gesellschaftli-chen Umstände mit ein. Denn angesichts der Befunde von Struktur- und Wahldaten gehen wir davon aus, dass genau diese Aspekte einen zentralen Einfluss auf das Wahlverhalten und damit das Zustandekommen von räumlichen Mustern bei den Wahlergebnissen haben.
Wir betrachten dabei die vollzogene Raumproduktion und unterscheiden in urbane und rurale Raumkonstrukte (siehe vertiefend Lefebvre 2013 und Förtner et al. 2019). Diese finden ihren Ausdruck nicht primär in physisch-materiellen Manifestationen, auch wenn Autobahnen, Ferien-wohnung oder Windkraftanlagen durchaus als Teile des Urbanen begriffen werden können, die in das Rurale gleichsam eindringen. Der mindestens ebenso wichtige Unterschied zwischen Urba-nem und Ruralem zeigt sich in den ganz unterschiedlich ausgeprägten ruralen und urbanen Den-kens- und Lebensweisen.
Mit der Perspektive der urbanen und ruralen Raumproduktion greifen wir räumliche Muster auf und verstehen diese als „Materialisierungen sozialer Prozesse“ (Förtner et al 2019: 29). Damit wird auch der Gegensatz zwischen Stadt und Land aufgehoben und die Verbindung zwischen Sied-lungsform (Stadt und Land) und Raumproduktion (urbanes und rurales Zusammenleben) über-wunden. Räumliche Muster entstehen folgerichtig nicht aus der Siedlungsform, sondern aus der Produktion urbaner und ruraler Räume.
Mit Belina (2022: 58) ist das Urbane ein soziales Verhältnis, das durch „die Raumform der Zentrali-tät“ entsteht. Zentralität meint in diesem Zusammenhang die Konzentration verschiedener Dinge und Ereignisse, die zu Differenzerfahrungen im Aufeinandertreffen des Unterschiedlichen führen. Urbanisierung ist ein globales Phänomen, das unabhängig von konkreten Siedlungsformen anzu-treffen ist und potenziell alle Orte der Welt erreicht, sei es durch ökonomische Globalisierung, Inf-rastrukturausbau, Mobilität oder digitale Medien. Gleichzeitig ist auch Rurales unabhängig von der konkreten Siedlungsform an unterschiedlichsten Orten zu finden, aber nicht durch Zentralität son-dern Peripherie geprägt (Lefebvre 2013). Als Konsequenz entstehen neue kleinräumliche Unter-schiede zwischen Urbanem und Ruralem und rücken ins Zentrum des Forschungsinteresses.
Den Ausgangspunkt dieser Entwicklung stellt das Aufbrechen von Dichotomien insbesondere in der Postmoderne dar. Vielfältigkeit, Uneindeutigkeit und zuweilen auch Inkommensurabilitäten gesellschaftlicher Praktiken sind zunehmend der Normalzustand. Dies betrifft auch und gerade den Gegensatz zwischen Stadt und Land (siehe vertiefend Kühne 2016, Kühne und Weber 2019). Übergänge physischer und mentaler Art zwischen den zuvor getrennten Konstrukten wer-den unschärfer, sie verwischen gleichsam. Dies zeigt sich, wenn urbane Raumformen wie Wind-kraftanlagen in zuvor rural konstruierte Räume eindringen. Und es zeigt sich gleichermaßen, wenn urbane Lebensweisen und -entwürfe wie Wohngemeinschaften, alternative Familienformen, nicht-binäre Identität oder gelebte räumliche und digitale Mobilität vermehrt in zuvor klassisch als rural verstandenen Räume zu finden sind. Gleichzeitig dringen auch rurale (wenn auch vermutlich in kleinerem Maßstab) Einstellungen und Lebensweisen in urbane Räume ein, etwa durch (arbeits-marktbedingte) Migration. Und so finden sich letztlich rurale Identitäten und Einstellungen auch in urbanen Kontexten, in denen ihnen die räumlichen Bezugspunkte fehlen
Dort, wo das ‚Urbane‘ und das ‚Rurale‘ sich gegenseitig in Frage stellen, entstehen Konfliktpoten-tiale. Dies geschieht insbesondere dann, wenn zuvor rurale Räume immer stärkeren Urbanisie-rungsprozessen ausgesetzt sind und damit eine Wahrnehmung der Verdrängung des Ruralen verbunden wird. Werden urbane Manifestationen, Merkmale und Eigenschaften wie beispielsweise Globalität, Multikulturalität und Diversität mit negativen Folgen für den ruralen Raum und die mit ihm verbundenen Lebensweisen assoziiert, so bietet das Ansatzpunkte für eine Politisierung von Lebensweisen.
Extrem rechte Parteien setzen in vielerlei Hinsicht auf eine solche Politisierung, indem sie Bedro-hungen des ‚Eigenen‘, des ‚Traditionellen‘, des ‚Ländlichen‘ konstruieren und mit extrem rechten Ideologemen verbinden. Das Globale, Urbane, Plurale wird so zu einem Feindbild konstruiert (vgl. Frankenberger et al. 2024). Diese Strategien sind insbesondere bei Personen anschlussfähig, die ein eher kommunitaristisches, partikulares und traditionales Weltbild haben und entsprechende Einstellungen teilen. Umfragen und Wahlergebnisse deuten darauf hin, dass ein solches Weltbild eher von Personen im ruralen Raum geteilt wird, die gleichzeitig von (als negativ wahrgenomme-nen) Urbanisierungsprozessen betroffen sind. Den Gegenpol, Personen mit kosmopolitischem Weltbild, finden wir hingegen verstärkt an Orten, welche stark von den Urbanisierungsprozessen profitieren bzw. bereits in vollurbanen Räumen wohnen und das Urbane positiv assoziieren (vgl. Merkel 2019).
Bezogen auf die AfD Wahlergebnisse bei den letzten Bundestags- und Europawahlen lässt sich zeigen, dass die AfD insbesondere in urbanen Räumen zum Teil deutlich niedrigere Wahlergeb-nisse erzielt als in anderen Räumen. Deutlich wird dies, wenn man die Wahlergebnisse in den Universitätsstädten betrachtet. Diese sind als stark urbane und damit stark kosmopolitische Räu-me zu verstehen. Hier erzielt die AfD deutlich unterdurchschnittliche Wahlergebnisse im Vergleich zum Landesdurchschnitt. Besonders interessant ist dabei, dass die Wahlergebnisse der AfD auch in den angrenzenden Gemeinden sehr häufig niedriger ausfallen als im Durchschnitt. Dies deutet darauf hin, dass in diesen rein physisch-materiell eher ländlich geprägten Räumen starke urbane Einflüsse wirken. Dies dürfte insbesondere durch den Kontakt zu kosmopolitischen Zentren in Form von räumlicher Nähe, aber auch Binnenmigration eher kosmopolitisch und urban geprägter Personen aus den Universitätsstädten ins Umland und die stärkere Einbindung in die Zentralität bewirkt werden.
Für die Europawahlen 2024 ergibt sich folgendes Bild für Baden-Württemberg. Die AfD legt im Vergleich zu 2019 um 4,7 Prozentpunkte zu und kommt auf 14,7%. Damit liegt sie 1,2 Prozent-punkte unter dem Bundesergebnis. Betrachtet man die Ergebnisse auf Land- und Stadtkreisebe-ne, so ist die CDU mit Ausnahme der Stadtkreise Heidelberg, Karlsruhe und Freiburg die jeweils stärkste Kraft. In diesen drei Stadtkreisen hat das Bündnis 90/Die Grünen jeweils die meisten Stimmen mit 26,8% (HD), 23,3% (KA) respektive 30,3% (FR) erhalten. Die AfD ist in keinem Land-kreis stärkste Kraft.
Werden die Ergebnisse der Wahl zum Europäischen Parlament auf kommunaler Ebene aufge-schlüsselt, so zeigen sich drei klare Trends:
- Die AfD legt in allen Kommunen außer in Ibach (Kreis Waldshut) zu. Dort verliert die AfD 2,83 Prozentpunkte. Der maximale Zugewinn liegt bei 16,22 Prozentpunkten in Zimmern unter der Burg. Hinzu kommt, dass sie in Spiegelberg (Rems-Murr-Kreis) mit 29,7% sogar die stärkste Kraft wurde.
- Bündnis90/Die Grünen büßt in allen Kommunen Stimmen ein. Minimal verliert es 0,36 Pro-zentpunkte (Grömbach), maximal 20,45 Prozentpunkte (Böllen). War die Partei bei den Wahlen zum Europäischen Parlament 2019 noch in 51 Kommunen die stärkste Kraft, so ist sie dies 2024 nur noch in insgesamt sieben Gemeinden, in denen sie die meisten Stimmen erhielt. Neben den schon genannten Stadtkreisen Heidelberg, Karlsruhe und Freiburg sind dies Konstanz, Tübingen, Merzhausen und Au. Letztere beiden liegen in unmittelbarer Nähe zu Freiburg. Damit verlieren die Grünen in der Fläche ihre Bedeutung.
- Die CDU ist in 1093 Gemeinden die stärkste Kraft. 2019 war sie es in „nur“ 1048. Auch wenn sie in einigen Kommunen zum Teil deutliche Verluste (maximal 14,45 Prozentpunkte in Untermarchtal) erlitt, konnte sie insgesamt 1,2 Prozentpunkte zulegen, den höchsten Zuwachs hatte sie in Seekirch mit 12,99 Prozentpunkten.
Die Karte in Abbildung 1 zeigt anhand der Ergebnisse der AfD auf Gemeindeebene, in welchen Regionen die AfD wie abgeschnitten hat. Je dunkler die Farbtöne, desto höher die Wahlergebnis-se der AfD bei der Wahl zum Europäischen Parlament 2024. Je heller die Farbgebung, desto niedriger die Wahlergebnisse. Besonders hervorgehoben durch die weiße Umrandung sind jeweils die Universitätsstädte und deren Umland.
Dabei zeigt sich, dass die AfD in den eher globalisierten, kosmopolitisch orientierten und universi-tär geprägten urbanen Räumen und deren unmittelbarem Umland deutlich schlechter abschneidet als in den eher ruralen Räumen Baden-Württembergs. Besonders stark ist die AfD im Nord- und Ostschwarzwald, auf der Baar, auf der Schwäbischen Alb, im Rems-Murr-Kreis, im Schwäbischen Wald, im Unterland und in der Hohenlohe. Die hier betrachteten Ergebnisse der AfD weisen in die gleiche Richtung wie unsere Analyse der Bundestagswahlen 2021: Die Wahlergebnisse der AfD spiegeln die gesellschaftliche Konfliktlinie zwischen urbanen und ruralen Raumkonstruktionen und den darin aufgehobenen Gegensatz Kosmopolitismus und Kommunitarismus räumlich wider. Auch zeigt sich etwa am Beispiel der Stadt Pforzheim, wie das Rurale im Urbanen zu finden ist und dort vermittelt über Einstellungen zu einem Erstarken der AfD beiträgt. Hier konnte die AfD bei den Kommunalwahlen 22% der Stimmen erringen und stellt im neuen Gemeinderat mit 9 Räten die stärkste Fraktion. Eine genauere sozialräumliche Analyse steht hier noch aus.
Schon bei der Bundestagswahl 2021 bildeten Bündnis90/Die Grünen und die AfD als Gegenspie-ler die gesellschaftliche Konfliktlinie zwischen urbanen und ruralen Raumkonstruktionen bzw. Kosmopolitismus und Kommunitarismus deutlich ab. Jetzt verlieren die Grünen bei der Wahl zum Europäischen Parlament in der Fläche an Bedeutung und die AfD ist dort stark, wo die Grünen schwach sind. Dieser Zusammenhang ist mit r=-,706 statistisch höchst signifikant. Damit verschiebt sich die Konfliktlinie zugunsten der AfD. Und anhand der kartographischen Darstellung der Ge-winne und Verluste der AfD und der Grünen zeigt sich erneut eine Polarisierung zwischen urba-nen und ruralen Räumen, die auch schon in der Bundestagswahl 2021 sichtbar wurde. Es sind insbesondere die Universitätsstädte und ihr Umland, die besonders resilient gegenüber der AfD sind und in denen die Grünen im Vergleich weniger Stimmen einbüßen.
Literatur
Belina, Bernd. 2022. „Land im Westlichen Marxismus. Adorno und Lefebvre“. in Ungleiche ländli-che Räume. Widersprüche, Konzepte und Perspektiven. Bielefeld: transcript Verlag.
Förtner, Maximilian, Bernd Belina und Matthias Naumann. 2019. „Stadt, Land, AfD. Zur Produktion des Urbanen und des Ruralen im Prozess der Urbanisierung“. Suburban - Zeitschrift für kri-tische Stadtforschung (Band 7, heft 1/2):23–44.
Frankenberger, Rolf, Lena Hinz, Olaf Kühne, Bjarne Pfau und Emilia Schmid. 2024. Raumkon-struktionen extrem rechter Parteien in Deutschland. Eine explorative Studie. Wiesbaden: Springer VS.
Kühne, Olaf, und Florian Weber. 2019. Hybrid California. Annäherung an den Golden State, seine Entwicklungen, Ästhetisierungen und Inszenierungen. Wiesbaden: Springer VS.
Kühne, Olaf. 2016. „Transformation, Hybridisierung, Streben nach Eindeutigkeit und Urbanizing former Suburbs (URFSURBS): Entwicklungen postmoderner Stadtlandhybride in Südkali-fornien und in Altindustrieräumen Mitteleuropas – Beobachtungen aus der Perspektive so-zialkonstruktivistischer Landschaftsforschung“. S. 13–36 in StadtLandschaften. Die neue Hybridität von Stadt und Land., Hybride Metropolen. Wiesbaden: Springer VS.
Lefebvre, Henri. 2013. „From the City to urban Society“. S. 36–51 in Planetary Urbanization. JO-VIS.
Merkel, Wolfgang, und Michael Zürn. 2019. „Kosmopolitismus, Kommunitarismus und die Demokra-tie“. S. 67–102 in Internationale Gerechtigkeit und institutionelle Verantwortung, herausgegeben von J. Nida-Rümelin, D. Daniels, und N. Wloka. Berlin, Boston: De Gruyter.
Kontakt
PD Dr. Rolf Frankenberger
E-Mail