Uni-Tübingen

B 04

Ressourcensuche als Auslöser von ‚Kolonisationsprozessen‘? Ursachenforschung zu fragmentierten bzw. neuzeitlichen Kolonisationsphänomenen

Fachklassifizierung

Klassische Archäologie
Archäologie des Mittelalters



Doktorand*innen und Postdocs


Fallstudie Etruskischer Apennin (Toskana und Emilia-Romagna, Italien)

Die Fallstudie beschäftigt sich mit der Etruskischen Mobilität im nördlichen Apennin-Gebirge in der Eisenzeit (8. bis 5. Jh. v. Chr.). Der Apennin diente in dieser Zeit als eine breite kulturelle Kontaktzone, welche das Kernland der Etrusker (in den heutigen italienischen Regionen Toskana, Latium und Umbria) mit der Po-Ebene (heutiges Emilia-Romagna) verband. Hier befanden sich viele wichtige natürliche und ökonomische Ressourcen für die lokalen Gemeinschaften, die zwischen den Flüssen Po, im Norden, und Arno, im Süden, siedelten. Wichtige Kultplätze, bei denen sich Menschen unterschiedlicher Herkunft, Sprache sowie kultureller und sozialer Identitäten trafen, entstanden an den infrastrukturellen Knotenpunkten des Routennetzes im Gebirge sowie in den benachbarten Hügelketten. Um die RessourcenKulturen der Region besser erschließen zu können, werden sowohl die Infrastrukturen der geographischen Vernetzungen als auch die der religiösen und sozialen Kommunikation näher untersucht.  Diese Infrastrukturen hatten eine Wirkung auf die Mobilität von Personen, Familienverbänden und anderen Gruppen, auf daraus resultierende koloniale und nicht-koloniale Begegnungen sowie auf die Verhandlungsdynamiken lokaler Identitäten. Konkret werden landschaftsarchäologische Analysen an infrastrukturellen Knotenpunkten sowie Untersuchungen an drei Materialgattungen -  Miniaturkeramik, kleinen bronzenen Weihgaben und aes signatum - durchgeführt. Neue Daten zu den infrastrukturellen Knotenpunkten, die eine besondere Relevanz für die Mobilität besaßen (Einbindung im Straßennetzwerk, Sichtbarkeit, Wasserbestände) werden durch Survey-Kampagnen und GIS-Analysen erhoben. Miniaturkeramik und kleine Votivbronzen wurden zu Hunderten an Kultorten bei relevanten natürlichen Ressourcen (Höhlen, Wasserreservoirs, thermale Quellen) gefunden. Diese sowie zahlreiche Barren von aes signatum werden dokumentiert und archäometrisch untersucht.  Dadurch sollen einige für die Mobilität der Etrusker und deren Nachbarn zentrale soziokulturelle Dynamiken, wie etwa die Sakralisierung der Ressourcen, der die Ressourcen betreffende Wissenstransfer und die Bildung des kollektiven kulturellen Gedächtnisses erfasst werden. Diese Dynamiken sollen als Teil einer RessourcenKultur der Bewegungen und der Begegnungen im eisenzeitlichen Apennin neu verstanden werden.

Fallstudie Nueva Germania (Paraguay, Gemeinde San Pedro)

1886 gründeten Elisabeth Nietzsche und ihr Ehemann Bernhard Förster im Herzen Paraguays die antisemitische Kolonie Nueva Germania. Bis zu 140 Siedlerfamilien beteiligten sich an dem Vorhaben, eine utopische Siedlung in Abgeschiedenheit zu gründen und damit das Deutsche Reich aufgrund sozialer und politischer Unzufriedenheit dauerhaft zu verlassen. Die Regierung des damals kriegsverwüsteten Paraguays unterstützte die Einwanderung aus Europa mit Subventionen, wie günstigem Land und Vieh, um den Wiederaufbau des Landes zu fördern.

Schon nach kurzer Zeit platzte der utopische Traum. Die Flucht vor Industrialisierung und Armut in eine ländliche Idylle mit ‚germanischen‘ und vegetarischen Wertvorstellungen kollidierte mit den harten Lebensbedingungen in einer unwirtlichen Gegend. Bernhard Förster starb 1889, vermutlich durch Selbstmord, und Nueva Germania konnte nicht länger finanziert werden. Elisabeth Nietzsche verließ die Siedlung und die übrigen Familien waren auf sich allein gestellt.

In diesem historisch-archäologischen Forschungsprojekt werden die Push- und Pull-Faktoren dieses Auswanderungsfalls untersucht. Die internen sozialen Beziehungen der Siedlerfamlien innerhalb der Siedlung sowie die Beziehungen mit der indigenen Bevölkerung und der umliegenden Landschaft sollen beleuchtet werden. Während die Siedler und Siedlerinnen ihre Hoffnungen, Bestrebungen und Ideologie als immaterielle Ressource mit sich brachten, mussten sie sich bald an die lokalen Ressourcen (Boden, Tierwelt, Wasser und Baumaterialien) sowie indigenes Wissen anpassen, um zu überleben. Dieser Wandel der Wahrnehmung und die Nutzung lokaler und mitgebrachter Ressourcen prägte die Siedlung und formte sie bis heute.

Anhand historischer Dokumente, Fotografien und Karten aus der frühen Phase der Kolonie werden die Intentionen und Planungen der Gründer analysiert. Wesentliche Quellenbestände konnten durch eine Archivrecherche im Goethe-Schiller-Archiv in Weimar und im Bundesarchiv Berlin ermittelt werden. Die Transkription und systematische Auswertung der schriftlichen, kartografischen und bildlichen Daten werden in einem GIS implementiert – dies wird dabei helfen, zu verstehen, wie die Kolonie geplant und konzipiert wurde.

Mit Unterstützung des paraguayischen Kulturministeriums werden mit archäologischer Feldforschung in Paraguay die materiellen Hinterlassenschaften der Siedlung (Architektur, archäologische Befunde, Kleinfunde) untersucht. Diese Spuren des gelebten Raums und die Veränderungen im Laufe der Zeit können Aufschlüsse über den Alltag der Siedler und Siedlerinnen geben und der Planung der Gründer kritisch gegenübergestellt werden.
Zusätzlich werden Interviews mit Anwohnern und Anwohnerinnen dabei helfen, mündliche Überlieferung zu den frühen Jahren der ehemaligen Kolonie zu sammeln und zu verstehen, welche Bedeutung die heutige Anwohnerschaft dem kulturellen Erbe der ehemaligen Kolonie beimisst.

Weitere archäologische Oberflächenbegehungen und eine Ausgrabung historischer Grundstücke sollen zum besseren Verständnis der in historischen Quellen unterrepräsentierten Gruppen (Siedler- und indigene Familien) beitragen. Es wird untersucht, inwiefern sich der diachrone Wandel der Beziehungen zu den oben genannten Ressourcen in den archäologischen Befunden und historischen Aufzeichnungen widerspiegelt.

Während der ersten archäologischen Untersuchung im März 2022 wurden bereits mehr als 40 historische Parzellen begangen, auf denen sich architektonische und archäologische Überreste der frühen Phase der ehemaligen Kolonie erhalten haben. Heute gilt das Erbe der Siedlung als interkulturelle Erfolgsgeschichte und als Ursprung der Domestizierung von Yerba Mate. Die Gemeinde feiert unter anderem Jahrestage und hat ein Museum zur Geschichte der Siedlung eingerichtet.

 

Projektpartner:

Ruth Alison (Paraguay, Denkmalpflegerin und Archäologin)
Dr. Jonatan Kurzwelly (Universität Göttingen, Kulturanthropologe)
Prof. Daniel Schavelzon (Argentinien, Archäologe)
Alasdair Brooks (Vereinigtes Königreich, Archäologe)


Öffentlichkeitsarbeit:

Offizielle Erklärung des Kulturministeriums:
http://www.cultura.gov.py/2022/02/arqueologos-alemanes-iniciaran-trabajo-de-investigacion-sobre-los-colonos-del-siglo-xix-en-nueva-germania/
Offizielle Erklärung des Kulturministeriums auf Facebook:
https://www.facebook.com/culturapy/posts/pfbid02jqpHq8h98ZWXvAFfKBhR86smk9hZhoELWNm3dNeaiduZPck95NSEFTxMftxkSEhM