Uni-Tübingen

C 07

Objekte der Vergangenheit und Gegenwart als Ressource. Kulturerbe – Nationalismus – Identität

Fachklassifizierung

Ethnologie
Empirische Kulturwissenschaft




Durch die Sakralisierung der Landschaft wird der ungeordnete Raum abgegrenzt, und es entsteht die kognitive und emotionale Vorstellung einer kohärenten Region, die Himmel und Erde miteinander verbindet und die Vergangenheit in die Gegenwart ruft. Diese Zuschreibungen werden über Erzählungen einprägsam transportiert und prägen sich durch Rituale und Praktiken tief in das Bewusstsein ein.
Bestimmte Orte können als Ressourcen betrachtet werden und die damit verbundenen lokalen und gesamtindischen Narrative, Rituale und Praktiken an, auf und über diesen Orten als RessourcenKomplexe.
In jüngster Zeit eignet sich die Hindutva-Bewegung in Indien Orte des nationalen Erbes für zunehmend einseitige Metanarrative des Hindu-Nationalismus an und verändert und negiert dabei die Geschichten, Narrative und rituellen Orte verschiedener Minderheiten und lokaler Bevölkerungen. Inwieweit verändern diese Aneignungen und Metanarrative die Wahrnehmung bestimmter Orte und die affektive Bindung an diese Orte in der Himalaya-Region? Wie artikulieren und verhandeln verschiedene Akteure ihr kulturelles Erbe in diesem dynamischen und umstrittenen Prozess? Wie verändern sich Erinnerungskultur und kulturelles Gedächtnis bei der Aktualisierung des Wertes der Ressource?

Kulturpolitische Arbeit mit partizipativen Museumsformaten analysiert kollaborative Ansätze in der Kuration ethnographischer und historischer Ausstellungen als Produzenten, Auslöser und Träger kultureller Identitäten. Ausgangspunkt ist die 2003 eröffnete Ausstellung ‚Surrounded Sarajevo‘ im Historischen Museum von Bosnien und Herzegowina in Sarajevo, die im Laufe der Jahre durch die Einbeziehung von Publikum, Künstlern und Aktivisten kontinuierlich überarbeitet und ergänzt wurde. Das Ziel der Ausstellung – zu zeigen, wie die Einwohner von Sarajevo während der Belagerung, die von 1992 bis 1996 dauerte, überlebten – wird umrahmt von 1.) den spezifischen Ressourcen (oder dem Mangel daran, da sowohl die lokalen als auch die föderalen Regierungsstellen sich seit dem Ende des Konflikts weigern, die Verantwortung für dieses staatliche Museum zu übernehmen) und Techniken, die das Museum nutzt, und 2.) den verschiedenen Erzählungen und Verständnissen der bosnisch-herzegowinischen Kultur und Gesellschaft, die durch die RessourcenKomplexe, die den Kuratoren zur Verfügung stehen, miteinander verbunden sind.

Das Projekt fragt: Wie verlaufen die Aushandlungsprozesse darüber, was das kulturelle Erbe von Bosnien und Herzegowina ist oder darstellt, zwischen den beteiligten Akteuren? Welche Rolle spielen die technischen und strukturellen Rahmenbedingungen, und wie werden diese in die Diskussionen um den beabsichtigten Wissenstransfer einbezogen? Welche Konzepte und Praktiken unterschiedlicher kultureller Identitäten werden durch die Präsentation materieller Kultur in der faktisch aufgegebenen staatlichen Institution verhandelt und generiert – und welche Foren der Deutungshoheit entstehen in diesen Prozessen?

Die von Prof. Thiemeyer betreute Fallstudie innerhalb des Teilprojekts C 07 ist an der Schnittstelle von Empirischer Kulturwissenschaft und Zeitgeschichte angesiedelt und befasst sich mit der Frage, wie deutsche Gedenkstätten und Geschichtsorte mit rechtsextremer Einflussnahme umgehen.
Die Studie konzentriert sich auf drei Institutionen: die Erinnerungs- und Gedenkstätte Wewelsburg in Büren (NRW), die KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen in Oranienburg (Brandenburg) und das Dokumentationszentrum Obersalzberg in Berchtesgaden (Bayern). Die Institutionen wurden insbesondere deswegen ausgewählt, weil sie sich hinsichtlich einiger mutmaßlich relevanter Faktoren (geografische Lage, Größe, Trägerschaft, Art der Vermittlung) stark voneinander unterscheiden. Gleichzeitig haben sie eines gemeinsam, nämlich dass sie regelmäßig als ‚Bühne‘ und Projektionsfläche für kollektive rechtsextreme Identitäten und Geschichtsbilder dienen.
Die Hypothese lautet, dass sich rechtsextreme Einflussnahme nicht nur auf die Arbeitsweise und das Angebot (Ausstellungen, Workshops, Schulungen, Öffentlichkeitsarbeit usw.) der entsprechenden Institutionen auswirkt, sondern auch auf die Emotionen, die (berufliche) Selbstwahrnehmung, das Denken und die Alltagspraktiken der Mitarbeitenden.
Indem Konzepte der kulturwissenschaftlichen Raumforschung mit denen der kulturwissenschaftlichen Emotionsforschung verbunden werden, nähert sich die Studie folgenden Fragen:
Wie äußert sich rechtsextreme Einflussnahme konkret und von welchen Faktoren hängt die Art der Einflussnahme ab?
Wie wird vor Ort mit rechtsextremer Einflussnahme umgegangen und von welchen Faktoren hängen die jeweiligen Strategien ab?
Welche Auswirkungen hat rechtsextreme Einflussnahme auf die Arbeitsweise und die Angebote der Institutionen und welche Konsequenzen hat sie für die Selbstwahrnehmung und die Emotionen der Mitarbeitenden?
Der erzähltheoretischen Tradition der Empirischen Kulturwissenschaft entsprechend wird das Sprechen über Praktiken und Emotionen der Modus der Arbeit sein. Mithilfe von leitfadengestützten Interviews wird sich dem individuellen Erleben, den Emotionspraktiken und den Strategien der Mitarbeitenden angenähert. Zusätzlich wird über teilnehmende Beobachtungen versucht, die Verschränkungen von Räumen, Akteur:innen, Emotionen und Praktiken zu erfassen. Diskurs- und Medienanalysen werden das Methodenspektrum ergänzen, um die empirischen Daten zu kontextualisieren.