Uni-Tübingen

Historisierung von Krisendiagnostik

Indem der SFB 923 offene Situationen untersucht, in denen unter hohem Zeitdruck Entscheidungen möglich und nötig sind, bewegt er sich in einem Feld, das begrifflich mit „Krise“ umschrieben wird. Dementsprechend lautet das erste der vier langfristigen Ziele des SFB, Krisendiagnostik zu historisieren. Der SFB greift zentrale Muster gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen auf, möchte dabei aber zu präziseren Analysen gelangen, als es über den „weichgespülten“[1] Begriff der Krise möglich ist. Dessen inflationäre Verwendung hat bereits Reinhart Koselleck beklagt[2], und auch in aktueller Literatur gilt er als Alltagsphänomen[3], ja als „Schlagwortpopanz“[4]. Dennoch erfreut sich die ‚Krise‘ großer Beliebtheit. Nicht zuletzt die ‚Finanzkrise‘ hat eine Flut einschlägiger Literatur erzeugt: Die Historische Bibliographie verzeichnet 3550 Publikationen aus dem Zeitraum 1990-2011, deren Titel auf ‚Krise‘ bzw. ‚crisis‘ Bezug nehmen.[5] Die Ubiquität der ‚Krise‘ lässt bereits manchen resignieren: „Zur Krise fällt mir nichts ein“, hielt jüngst der Philosoph Otto Neumaier fest und bezog sich damit einerseits auf die häufige Degradierung des Begriffs zur Worthülse, andererseits auf die fehlende Präzision des Konzepts selbst.[6]

In der Tat: Der Gehalt von ‚Krise‘ ist unbestimmt. Konsens herrscht nur darüber, dass Krisen offene (also nicht zwangsläufig negativ endende) Situationen sind, in denen Routinen und Regelvertrauen suspendiert werden. Anderes aber bleibt strittig: Krisen können als längere Phasen gefasst werden (Krisen der archaischen Zeit, der späten Römischen Republik, des Spätmittelalters, des 17. Jahrhunderts, der bürgerlichen Moderne, der Weimarer Republik, des Wohlfahrtstaates, der Männlichkeit usw.)[7]. Krisen können aber auch als Momente der Latenz gelten, „der Suspendierung von Ereignishaftigkeit, bei der ein Wandel bevorsteht, sich aber noch nicht vollzogen hat“[8]. Und Krisen können als Zuspitzungsphasen unmittelbar vor Wendepunkten begriffen werden (gleichsam zwischen der Alternative: Krise als „Zeitraum“ oder „Moment“);[9] auch hier finden sich dann differierende Definitionen (Krise als Momentaufnahme in schwer aufzuhaltenden Prozessen[10], als Kippmoment in historischen Verläufen[11] oder als Umschlagpunkt, an dem klar wird, welcher aus einer Reihe möglicher Verläufe eintreten wird[12]). Oft wird ‚Krise‘ sogar lediglich als Etikett für Schlüsselereignisse, Umbrüche oder Übergangszeiten verwendet,[13] bezeichnet den „Umbruch von einem mehr oder minder stabilen Regime zum anderen“[14] oder schlicht ein „Übergangsphänomen“.[15]

Im Übrigen ist der Begriff in komplexer Weise an die westliche Moderne gekoppelt.[16] Reinhart Koselleck hat die Krise zum Signum der Moderne schlechthin erklärt.[17] Noch 2013 erschien ein Sammelband über Krisen, der sie im Untertitel als „Narrativ der Moderne“ kennzeichnet.[18] Thomas Mergel weist zwar ebenfalls auf den Zusammenhang von Krisen- und Moderne-Konzepten hin, zeigt sich dann aber unsicher, ob sich der Krisen-Begriff auch auf die globalisierte Moderne anwenden lasse.[19] Dahinter stehen auch Einwände aus der Ethnologie gegen die Verkoppelung von Krise und Moderne, die jüngst aus historischer Perspektive weiter fundiert wurden.[20] Auch als Zentralbegriff der Moderne büßt ‚Krise‘ demnach aktuell an Überzeugungskraft ein.

Angesichts all dessen wird man nach Nutzen und Kosten des Krisen-Begriffs fragen müssen. Richtig ist: Er ermöglicht einen Blick auf soziale Ordnungen und kulturelle Muster[21], beinhaltet „eine produktive und kreative Zuschreibung“[22] und erlaubt es, „einen Untersuchungszusammenhang zu organisieren, der jenseits monokausaler Erklärungen soziale Komplexität zu denken und einen bestimmten Modus historischen Wandels zu erfassen sucht“.[23] Und doch: Krisenbegriffe – gleich welcher Couleur – bleiben theoretisch und methodisch unscharf, ja unterkomplex.[24] Zumal die Operationalisierung bereitet Probleme: Krisen gestalten sich als multifaktorielles Amalgam; welche ihrer Faktoren überhaupt berücksichtigt und wie sie gewichtet werden sollen, ist unklar. Aussagen der Akteure allein lösen das Problem nicht, denn die Akteure ringen um Diskurshoheit (etwa weil sie sich als ‚Krisenmanager‘ profilieren und damit politische Handlungen legitimieren wollen). Will aber der wissenschaftliche Beobachter selbst Faktoren und Gewichtung festlegen, so ist er gezwungen, ein Narrativ zu entwickeln[25], das zwar ungeheuer flexibel, eben deshalb aber auch wenig erkenntnisfördernd ist[26] – zumal bei Krisen, die als längere Zeiträume konzeptualisiert werden (Makrokrisen). Das Problem zeigt sich exemplarisch in den Diskussionen über das Verhältnis von Krise und Katastrophe:[27] Hier werden ‚Ereignis‘ und ‚Verlauf‘ (häufig in eins gesetzt mit ‚Struktur‘) miteinander konfrontiert;[28] doch auch der jüngste Vorschlag, Katastrophen prozessual (im Sinne von Katastrophenkulturen) zu denken und damit den Krisen als Verlaufsphänomenen an die Seite zu stellen,[29] trägt nur wenig bei, den Krisenbegriff zu schärfen. So kann man zugespitzt sagen, dass „sich das Konzept der ‚Krise‘ gerade aufgrund seiner limitierten analytischen Durchdringungskraft zu einem Motor der Erzeugung wissenschaftlicher Relevanz entwickelt hat“.[30] Das Wort signalisiert Aktualität; und man kann es immer häufiger verwenden, weil es immer unschärfer wird.

Wo der Krisenbegriff dennoch sozialen Wandel erfassen soll,[31] steht dahinter letztlich die Konstruktion zweier Normalitäten, denen die Krise zwischengelagert sei. Das Verfahren ist problematisch: Es kollidiert mit dem Verständnis der Moderne als „permanenter Krise“ (Koselleck), das eine wie auch immer geartete Normalität von Vornherein ausschaltet; und es übersieht die Tatsache, dass sich historische wie gegenwärtige Gesellschaften in Situationen einrichten können, die zwar nach heutigen westlichen Deutungsmustern als krisenhaft gelten müssten, von den Akteuren selbst aber nicht in dieser Weise empfunden werden.[32] Normalität müsste folglich eher als kulturelles Produkt jeweils distinkter Gesellschaften angesehen werden, das seinerseits Normativität erzeugt und die Krise zum Bruch der Normen und damit a priori zum Unruhefaktor erklärt.[33] Wer die Krise im Munde führt, kämpft häufig um etablierte Ordnungen.

Auf der Suche nach neuen Perspektiven zeichnen sich derzeit zwei Wege ab: eine Modifikation gängiger Krisenkonzepte – und die Erprobung von Alternativen, wie sie unser SFB betreibt.

Wer ‚Krise‘ heute konzeptuell zu schärfen sucht, insistiert auf ihrem Konstruktcharakter und löst vorsichtig ihre Bindung an eine westliche Moderne. Krisen werden dann als Wahrnehmungs­phänomene, als Produkte gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen, als Metapher oder Narrativ begriffen[34] – entwickelt aus dem ursprünglich medizinischen Kontext des griechischen Terminus krísis (‚Diagnosen‘, ‚Symptome‘, ‚Kollaps‘, ‚Therapien‘ usw.) und charakterisiert durch einen spezifischen Plot (positiv besetzte Vergangenheit – Verfall – Umschlag in eine offene Zukunft).[35] Solche Metaphern und Plots können auch in nicht westlichen bzw. historischen Gesellschaften untersucht werden und erlauben eine universale Anwendung des Krisenkonzepts. Eine Krise ist dann „eine bestimmte Form von narrativen Ordnungs- und Sinnstiftungsmustern bzw. […] ‚Kultur­beschreibungen‘, die ihrerseits ‚immer auf Beschreibungskulturen‘ verweisen“.[36] Dieser aktuelle Versuch, den Krisenbegriff zu schärfen, verdankt seine wichtigsten Anregungen den Literatur- und Kulturwissenschaften, v.a. der Narratologie.[37] Zuletzt wurde sogar argumentiert, dass der Krisenbegriff gerade aufgrund seiner analytischen Defizite poetologischer Verfahren bedürfe, um wissenschaftlich operationalisierbar zu werden.[38] Damit rückt indes unweigerlich die ‚Krise als Erzählung‘ in den Fokus, und mit ihr die diese lenkenden Akteure und Medien: Krisen erscheinen als medial vermittelte Produkte, als „das mediale Gegenstück zur uninteressanten Normalität alltäglicher Situationen“.[39] Mit der narratologischen Aufarbeitung von Krisen droht also die Sachdimension sozialen Wandels allzu sehr in den Hintergrund zu rücken, ganz so wie jene Phänomene, die sich nicht einer präsupponierten Plotstruktur fügen: gerade diese sind jedoch für den SFB 923 in besonderer Weise interessant.

Der SFB 923 beschreitet daher einen anderen Weg: Er löst sich ganz vom Krisenbegriff und analysiert bedrohte Ordnungen. Im Antrag zur ersten Förderphase wurde dies zum einen mit der fehlenden Tiefenschärfe des inflationär verwendeten Begriffs begründet, zum anderen mit der Fixierung der ‚Krise‘ auf die europäische Moderne.[40] Inzwischen hat unser Forschungsprozess weitere Chancen der Analyse bedrohter Ordnungen im Vergleich zu Krisen offengelegt. Eine der zentralen Schwächen des Krisenbegriffs – sein Oszillieren zwischen Phase und Moment – wird im Fokus auf Ordnungen im Zustand der Bedrohung aufgehoben. Die Analyse solcher bedrohten Ordnungen trägt zugleich zur Operationalisierbarkeit bei: Während Krisenbegriffe vage alles mit allem in Beziehung setzen können und die Auswahl und Gewichtung der konstituierenden Faktoren letztlich der Willkür des Beobachters überlassen, gibt die Ordnung als Ausgangspunkt ein Analyseraster vor, das es erlaubt, Gesellschaften in weiter Diachronie vergleichend zu untersuchen. Während Krisen als Phase oder Moment zwischen zwei Normalitäten konzeptualisiert werden, stellt der SFB die Dynamik von Ordnungen und der dahinterstehenden Gruppen bzw. Gesellschaften in Rechnung; wir untersuchen nicht Phasen zwischen statischen, normativ begriffenen Blöcken, sondern Extremsituationen innerhalb von Ordnungen, denen auch sonst Dynamik und Veränderungsdruck inhärent ist. Während der Krisenbegriff wissenschaftsgeschichtlich in komplexer Weise an Selbstzuschreibungen der westlichen Moderne gekoppelt ist und bestenfalls noch mithilfe einer narratologischen Perspektive daraus gelöst und konzeptuell geschärft werden kann, stellt der Existenzbezug von Bedrohung die Rationalität als zentrales Element der Moderne infrage. Das bringt Körper, Dinge und Dramatiken in die Geschichte von Ordnungen hinein und ermöglicht neue vergleichende Verknüpfungen über Räume und Zeiten hinweg.[41]