Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 3/2023: Leute

Leidenschaftlicher Forscher und Lehrer

Zum Tode von Professor Dr. Wolfgang Engelmann ein Nachruf von Charlotte Förster und Bernd Antkowiak

Am 1. Juli starb völlig unerwartet unser hochgeschätzter Freund, Kollege und akademischer Lehrer Wolfgang Engelmann in seinem 90. Lebensjahr. Er forschte und lehrte 40 Jahre lang am Institut für Biologie I der Universität Tübingen und war international führend auf dem Gebiet der Chronobiologie, der Erforschung von biologischen Rhythmen und Inneren Uhren. Nicht zuletzt wegen Wolfgang Engelmann war die Chronobiologie für viele Jahrzehnte an der Universität Tübingen hoch aktuell und hat mehrere namhafte Wissenschaftler hervorgebracht.

Wolfgang Engelmann wurde am 26. Februar 1934 als zweites von fünf Geschwistern in Weimar geboren. Während des zweiten Weltkriegs, von 1940 bis 1943, besuchte er die Grundschule in Kiel und von 1944 bis 1950 die Internats- und Eliteschule Schulpforta bei Naumburg. Unter dem nationalsozialistischen Drill in dieser Schule, der 1945/46 von der nicht weniger totalitären Führung der sowjetischen Militärverwaltung abgelöst wurde, hat er sehr gelitten. Als 1950 alle Schüler gezwungen werden sollten der Freien Demokratischen Jugend (FDJ), der staatlichen Jugendorganisation der DDR, beizutreten, trat er am 2. Weihnachtsfeiertag, ein Jahr vor seinem Abitur, zusammen mit einem Freund eine beschwerliche Flucht im Tiefschnee in den Westen an. Er fand eine neue Heimat in Hamburg, wo er sich mit Hafen- und anderen Arbeiten durchschlug, das ihm in Schulpforta verwehrte Abitur nachholte und ein naturwissenschaftliches Studium an der Universität Hamburg begann. Die Zeit des Hungers und der Entbehrungen haben ihn entscheidend geprägt. Wolfgang Engelmann blieb bis zum Ende seines Lebens sparsam und bescheiden. Er hat sich selbst meistens hintenangestellt und andere Menschen aus vollen Kräften unterstützt, nicht nur Studierende, sondern auch Flüchtlinge und Opfer verschiedenster Katastrophen.

1956 wechselte er an die Universität Tübingen zum Studium der Naturwissenschaft und promovierte 1960 bei Erwin Bünning mit einer Arbeit über die Beziehung zwischen Photoperiodismus und circadianen Rhythmen bei Pflanzen. Erwin Bünning gilt zusammen mit Jürgen Aschoff und Colin Pittendrigh als Begründer der modernen Chronobiologie. Er erkannte früh die kreativen und innovativen Fähigkeiten von Wolfgang Engelmann und setzte ihn für technisch herausfordernde Forschungsarbeiten ein. Als Stipendiat der Thyssen-Stiftung ging Wolfgang Engelmann im November 1961 bis März 1963 für seine erste Postdoktorandenzeit zu David Shappirio an die Universität Michigan in Ann Arbor, USA. Dort erforschte er den Photoperiodismus (Tageslängenmessung zur Induktion der Winterruhe) bei der Zuckmücke Chironomus tentans, Arbeiten, die zu einer Publikation in der renommierten wissenschaftlichen Zeitschrift Nature führten. Zurück in Tübingen wurde Wolfgang Engelmann im Oktober 1963 zum wissenschaftlichen Assistenten am Institut für Biologie ernannt und blieb der Forschung an circadianen Rhythmen und photoperiodischen Reaktionen bei Pflanzen und Insekten treu. Zu dieser Zeit lernte er auch seine spätere Frau Sigrun Hörr kennen. Die beiden heirateten 1965, und ein Jahr später kam der gemeinsame Sohn Dirk zur Welt. Die kleine Familie zog für seine zweite Doktorandenzeit für ein Jahr nach Princeton, wo Wolfgang Engelmann bei Colin Pittendrigh, dem zweiten Begründer der modernen Chronobiologie, eine wissenschaftlich erfüllende und produktive Zeit verbrachte. Colin Pittendrigh erkannte rasch die Talente von Wolfgang Engelmann und machte ihm das Angebot, ihn als wissenschaftlicher Mitarbeiter an die Stanford Universität zu begleiten, an welche er einen Ruf als ordentlicher Professor erhalten hatte. Ein verheerender Brand in der

Unterkunft von Wolfgang Engelmanns Familie, den diese nur knapp überlebte, stellten die Pläne in den USA zu bleiben in Frage. Schweren Herzens entschied sich Wolfgang Engelmann den Wünschen der Familie nachzukommen und nach Deutschland zurückzukehren. Dort kam 1968 die gemeinsame Tochter Lerke zur Welt. Seine Assistentenstelle am Institut für Biologie I wurde verlängert, er habilitierte sich 1972, arbeitete ab 1974 als Privatdozent und wurde 1979 zum Professor für Biologie ernannt.

Wolfgang Engelmann war ein charismatischer Lehrer, der viele Studierende in seinen Bann zog. Seine Praktika waren legendär, denn er machte als einziger Lehrender keine vorgefertigten Versuche, sondern ließ die Studierenden selbst ihr Praktikumsprojekt wählen. In den ersten Tagen des Praktikums wurde den Studierenden die vielseitigen Projekte der Arbeitsgruppe vorgestellt und sie konnten auswählen, welches sie in den nächsten drei Wochen verfolgen wollten. In der Regel bearbeitete jeder Studierende ein anderes Projekt, wobei es massive Unterstützung von den Mitarbeitern und manchmal auch der Institutswerkstatt gab. Jedes Projekt hatte einen offenen Ausgang. Manchmal stand am Ende des Praktikums lediglich der Versuchsaufbau, aber nicht selten bildeten die Praktikumsversuche die Basis von späteren Diplom- oder Doktorarbeiten. In jedem Fall lernten die Studierenden, was Wissenschaft ist und wie gute wissenschaftliche Praxis aussieht. Bemerkenswert dabei war, dass Wolfgang Engelmann die Studierenden stets auf Augenhöhe behandelte. Er nahm sie so ernst wie seine Kollegen und war stets begeistert von ihren Ideen und Ergebnissen. In der Arbeitsgruppe existierte eine wissenschaftliche Lebendigkeit, wie wir sie später in unserem eigenen wissenschaftlichen Leben kaum mehr erlebt haben. Ergebnisse aller Mitglieder sowie die aktuelle Literatur wurde in den Arbeitsgruppenseminaren offen und kritisch diskutiert und neue Arbeitshypothesen aufgestellt. Eine von Wolfgang Engelmann häufig gestellte Frage war: „Wie könnte man das testen?“

Wenn Besuch von internationalen Fachkollegen kam, was bei Wolfgang Engelmanns Reputation nicht selten war, saß die ganze Gruppe im Kreis zusammen und er stellte dem Gast jeden einzelnen mit seinem Forschungsprojekt vor. Ob Staatsexamens-, Diplomkandidat oder Doktorand, alle wurden in die internationale Forschung integriert. Auch auf Fachtagungen nahm Wolfgang Engelmann meist die ganze Gruppe mit (in der Regel zelteten wir zusammen auf dem nahegelegensten Campingplatz). So lernten wir schon im Frühstadium die Wissenschaftswelt kennen und konnten internationale Kontakte knüpfen. Es ist also nicht erstaunlich, dass viele von Wolfgangs Doktoranden selbst zu Wissenschaftlern wurden und einige von ihnen Professuren erlangten. Sein wohl berühmtester Schüler war Maroli Krishnayya Chandrashekaran (1937-2009), auch Shekhar genannt, der die Chronobiologie in Indien begründete und als „der indische Chronobiologe“ schlichthin gilt. Durch Wolfgang Engelmanns ehemalige Doktorandin Sang-Zin Han, die bis vor kurzem eine Professur in Seoul innehatte, gelangte die Chronobiologie nach Südkorea, und sein ehemaligen Doktorand Hans-Willi Honegger war bis zu seinem Ruhestand Professor an der Vanderbilt University (Nashville Tennessee, USA). Barbara Helm, die als inzwischen sehr renommierte Chronobiologin das Timing des Vogelzugs an der Schweizer Vogelwarte untersucht, hat bei Wolfgang ihre Diplomarbeit gemacht; und auch die Autoren dieses Artikels sind erfolgreiche Wissenschaftler geworden. Intensive Kontakte pflegte Wolfgang Engelmann weiterhin zu Wissenschaftlern in Norwegen, Schottland, Polen, Neuseeland, Japan und anderen Teilen der Welt.

In seiner eigenen Forschung konnte Wolfgang Engelmann die Existenz von Inneren Uhren in mehr als 20 verschiedenen Organismen, von Einzellern über Pflanzen zu Tieren nachweisen und deren Eigenschaften ergründen. Einer der vielen Schwerpunkte seiner Forschung war es, die Wirkung von Lithium und anderer Substanzen auf circadiane Uhren aufzuklären. Er fand, dass Lithium die circadiane Uhr der meisten Pflanzen und Tiere verlangsamte. Wenn

die circadiane Uhr allerdings bereits sehr langsam tickte, konnte Lithium auch beschleunigend und somit ausgleichend wirken. Da Lithium gegen bipolare Störungen eingesetzt wurde, und diese in engem Zusammenhang mit Inneren Uhren stehen, wollte er die Hypothese testen, dass Lithium sich durch Normalisierung der Inneren Uhr positiv auf Depressionen auswirkt. Zusammen mit dem Biophysiker Anders Johnsson (Norwegian University of Science and Technology) und dem Psychiater Burckhard Pflug (1939-2009) (Universitätsklinikum Frankfurt) untersuchte er die Wirkung von Lithium auf Freiwillige während des arktischen Sommers in Spitzbergen und fand, dass Lithium tatsächlich die Geschwindigkeit der menschlichen Inneren Uhr verändert.

Auch die Erforschung von Insektenuhren war Wolfgang Engelmann zeitlebens ein Anliegen. Er setzte Drosophila Mutanten ein, um die Lage der circadianen Uhr im Gehirn und die Mechanismen ihrer Synchronisation durch Licht aufzuklären und war der erste, der zeigen konnte, dass auch augenlose Fliegen ihre Innere Uhr durch Licht synchronisieren können. Dies war der Beweis für einen extraretinalen Photorezeptor, der Jahre später in Form des Blaulichtpigments Cryptochrom gefunden wurde.

Einen weiteren Schwerpunkt der Forschung von Wolfgang Engelmann bildeten rhythmische Blattbewegungen. Wiederum war er der erste, der zeigte, dass auch die Ackerschmalwand Arabidopsis thaliana, ein wichtiges Modell in den Pflanzenwissenschaften, die Blätter während der Wachstumsphase im circadianen Rhythmus auf und ab bewegt. Dafür entwickelte er zusammen mit einem Doktoranden eine Versuchsapparatur, mit der er die Blattbewegungen im dreidimensionalen Raum aufzeichnen konnte. Diese Aufzeichnungen führte er auch im Ruhestand (ab 1999) bei sich zu Hause in Hagelloch im Keller weiter. Außerdem widmete er sich vermehrt dem Schreiben von Online-Artikeln und Büchern über biologische Rhythmen, die für jedermann zugänglich sind (Publikationssystem der Universitätsbibliothek Tübingen, TOBIAS.lib)

Dort findet man 77 Werke von Wolfgang Engelmann, darunter Zeitrafferfilme von Blatt- und Blütenblattbewegungen verschiedener Pflanzen. Weiterhin gibt es mehrere für den wissenschaftlichen Laien geschriebene Bücher zu Themen wie „Bio-Kalender – Das Jahr im Leben der Pflanzen und Tiere“ (auf Deutsch, Englisch und Französisch), „Blumenuhren, Zeit-Gedächtnis und Zeit-Vergessen“ (deutsch und englisch), „Rhythmen des Lebens – Eine Einführung anhand ausgewählter Themen und Beispiele“ (deutsch und englisch), „Uhren, die nach dem Mond gehen – Einfluss des Mondes auf die Erde und ihre Lebewesen“ (deutsch und englisch) und vielen anderen. Wolfgang Engelmann arbeitete kontinuierlich daran seine Werke zu aktualisieren und zu ergänzen. Nun starb er auf dem Weg zu einer Vortragsreihe für Linux-Benutzer in Tübingen, dessen Textsatzsystem LaTeX er zum Schreiben seiner Online-Texte benutzte. Die Artikel, an denen er gerade schrieb, werden wohl unvollendet bleiben…

Wir haben nicht nur unseren hervorragenden Lehrer verloren, sondern auch einen lieben Freund und Kollegen. Unsere Gedanken und unser Mitgefühl gelten seiner Frau, seinen beiden Kindern und den acht Enkelkindern, denen wir die plötzlich entstandene Leere mit Worten nicht füllen können.