Sozialer Umbruch und Kriminalität in der früheren DDR
Mit der Wende in der früheren DDR im November 1989 bot sich auch für die Kriminologie die Gelegenheit, eine historisch seltene Situation, in der weite Teile eines Gesellschaftssystems zugunsten eines anderen aufgegeben werden, wissenschaftlich zu begleiten. Seit 1990 besteht ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördertes Projekt Sozialer Umbruch und Kriminalität in der früheren DDR, das vom Institut für Kriminologie in Kooperation mit der Kriminologischen Forschungsstelle Berlin am Kriminalwissenschaftlichen Institut der Humboldt-Universität und dem Seminar für Jugendrecht und Jugendhilfe der Universität Hamburg durchgeführt wird.
Im wesentlichen geht es um den Zusammenhang zwischen makrostrukturellem sozialen Umbruch und der Entwicklung abweichenden Verhaltens, welches mit quantitativen Täter- und Opferbefragungen erhoben wird. Im Hinblick auf die soziale Struktur sowie soziale Einstellungen und Mentalitäten wurden neben den üblichen soziodemografischen Variablen Fragen zu sozialen Milieus, sozialen Netzen, anomischen Erscheinungen, nicht-delinquenten Problembewältigungsstilen und unterschiedlichen Formen politischer Partizipation, zur Lebens-, Arbeits- und Konsumzufriedenheit, finanziellen Sicherheit, Beunruhigung über soziale Probleme, zum Autoritarismus und Nationalismus, zur Wahrnehmung sozialer Destabilisierung in der Nachbarschaft, zur familiären Struktur (Erziehungsstil, familiäre Auseinandersetzungen und Spannungen auch infolge der Wende) aufgenommen. Darüber hinaus bilden subjektive Reaktionsweisen gegenüber der Kriminalität in Form der Kriminalitätsfurcht, persönlichen Risikoeinschätzung, des Vermeide- und Schutzverhaltens, allgemeiner und umbruchstypischer Sanktionseinstellungen sowie schließlich der Konsum von Kriminalitätsberichten in den Massenmedien einen Schwerpunkt der Erhebung.
Bislang wurden 1991 mit 2.011 Befragten in den neuen Bundesländern sowie 1993 mit 2.034 westdeutschen und 4.051 ostdeutschen Probanden repräsentative Bevölkerungsbefragungen, die im Osten für Großstädter und jüngere Altersgruppen überquotiert waren, durchgeführt. Aus diesen Befragungen lassen sich bereits erste, für die Beurteilung der Kriminalitätssituation im sozialen Umbruch nicht unerhebliche Trends erkennen: So hatte, den Opferbefragungen zufolge, die Eigentums- und Gewaltkriminalität in den neuen Bundesländern bereits im Frühjahr 1991, also 18 Monate nach dem Fall der Mauer, das gleiche Niveau wie im Westen erreicht. Seitdem konnten keine wesentlichen Steigerungen mehr beobachtet werden, zum Teil gingen die Opferraten sogar zurück. Die Kriminalitätsfurcht, verstanden als Beunruhigung, von bestimmten Gewalt- oder Sexualdelikten persönlich betroffen werden zu können, hatte in den neuen Bundesländern nach der Wende bis 1991 erheblich zugenommen und war teilweise doppelt so hoch wie im Westen. Sie ist aber seitdem bis zum Sommer 1993 insgesamt nicht weiter gestiegen; zwischen 1991 und 1993 war in Ostdeutschland in den Metropolen Ostberlin, Leipzig und Dresden sogar ein Rückgang zu verzeichnen, während in kleineren Großstädten eine Zunahme der Kriminalitätsfurcht zu beobachten war. Im Vergleich dazu war die Beunruhigung über andere soziale und politische Probleme (wie Arbeitslosigkeit, sozialer Abstieg, Umweltverschmutzung, Rechtsextremismus) sowie über nicht als persönliche Bedrohung, sondern als gesellschaftlich problematisch eingeschätzte Kriminalitäts- und Devianzerscheinungen (- wie Aggressivität und Gewalt, Korruption oder organisierte Kriminalität -) weit stärker ausgeprägt.
International Self Reported Delinquency Survey (ISRD)
Arbeitsgruppe
Klaus Boers
0251-83 22749
boersspam prevention@uni-muenster.de
07071-297 2931
hans-juergen.kernerspam prevention@uni-tuebingen.de
Martin Schupp
Martin Groß
Veröffentlichungen
1991
Boers, K.: Kriminalitätsfurcht. Über den Entstehungszusammenhang und die Folgen eines sozialen Problems. Pfaffenweiler: Centaurus, 393 S.
1992
Boers, K., Ewald, U., Kerner, H.-J., Lautsch, E., Sessar, K.: Sozialer Umbruch und Kriminalitätsentwicklung in der früheren DDR. Methodenbericht. Bonn: Forum.
1993
Boers, K.: Kriminalitätsfurcht. Ein Beitrag zum Verständnis eines sozialen Problems. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 76, Heft 2, S. 65-82.
1994
Boers, K.: Kriminalitätseinstellungen in den neuen Bundesländern. In: Boers, K., Ewald, U., Kerner, H.-J., Lautsch, E., Sessar, K. (Hrsg.): Sozialer Umbruch und Kriminalität. Band 2: Ergebnisse einer Kriminalitätsbefragung in den neuen Bundesländern. Bonn: Forum Verlag Godesberg, S. 21-74.
Boers, K.: Kriminalität und Kriminalitätsfurcht im sozialen Umbruch. Neue Kriminalpolitik 6, Heft 2, S. 27-31.
Boers, K.: Bünözés és a bünözéstöl való félelem a társadalmi átalakulás idején (Kriminalität und Kriminalitätsfurcht im Sozialen Umbruch). Külföldi Figyelö, Heft 2, S. 3-10.
Boers, K., Class, M., Kurz, P.: Self-Reported Delinquency in Germany after the Reunification. In: Junger-Tas, J., Terlouw, G.-J., Klein, M.W. (Eds.): Delinquent behavior among young people in the Western World. Amsterdam, New York: Kugler, S. 345-355.
Boers, K., Ewald, U., Kerner, H.-J., Lautsch, E., Sessar, K. (Hrsg.): Sozialer Umbruch und Kriminalität. Band 1: Deutschland, Mittel- und Osteuropa. Bonn: Forum Verlag Godesberg, 221 S.
Boers, K., Ewald, U., Kerner, H.-J., Lautsch, E., Sessar, K. (Hrsg.): Sozialer Umbruch und Kriminalität. Band 2: Ergebnisse einer Kriminalitätsbefragung in den neuen Bundesländern. Bonn: Forum Verlag Godesberg, 285 S.
1995
Boers, K.: Kriminalitätseinstellungen und Opfererfahrungen. In: Kaiser, G., Jehle, J.-M. (Hrsg.): Kriminologische Opferforschung. Neue Perspektiven und Erkenntnisse. Teilband 2: Verbrechensfurcht und Opferwerdung. Heidelberg: Kriminalistik, S. 3-36.
Boers, K.: Ravensburg ist nicht Washington. Einige Anmerkungen zum Beitrag von Thomas Feltes und Heike Gramckow "Bürgernahe Polizei und kommunale Kriminalprävention - Reizworte oder demokratische Notwendigkeiten? Neue Kriminalpolitik 7, Heft 1, S. 16-21.
Boers, K.: Sozialer Umbruch, Modernisierung und Kriminalität. In: Sahner, H. (Hrsg.): Gesellschaften im Umbruch. 27. Kongreß der deutschen Gesellschaft für Soziologie in Halle. Tagungsband 2. Frankfurt a.M.: Campus.
Pressemitteilung vom 28.9.1995 zum Forschungsprojekt Sozialer Umbruch und Kriminalität in West und Ostdeutschland.
1996
Boers, K.: Sozialer Umbruch, Modernisierung und Kriminalität. In: Peters, H. (Hrsg.). Wandel von Abweichung und Kontrolle im vereinigten Deutschland. Soziale Probleme 6, Heft 2, 153-215.
Boers, K.: Sozialer Umbruch und Kriminalität in Deutschland. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 79, 314-337.
Boers, K., Becker, M., Kurz, P.: Kriminalitätsfurcht und Prävention im sozialen Nahbereich. In: Kube, E., Schneider, H., Stock, J. (Hrsg.): Kommunale Kriminalprävention in Theorie und Praxis. Lübeck: Schmidt-Römhild, 79-110.
1997
Boers, K.: Rendszeraltás és bünözés Közép - és Kelet-Európában - egy köztes ös szegzés. In: Irk, F. (Hrsg.): Társadalmi átalakulás és Bünözés. Deutsch-Ungarisches Symposium in Budapest vom 20. bis 25. August 1995. Budapest: O Kkrl, 279-298.
Boers, K.: Sozialer Umbruch, Modernisierungsrisiken und Kriminalität. In: Boers, K., Gutsche, G., Sessar, K. (Hrsg.). Sozialer Umbruch und Kriminalität in Deutschland. Opladen: Westdeutscher Verlag, 35-52.
Boers, K., Gutsche, G., Sessar, K. (Hrsg.): Sozialer Umbruch und Kriminalität in Deutschland. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Boers, K., Kurz, P.: Kriminalitätseinstellungen, soziale Milieus und sozialer Umbruch. In: Boers, K., Gutsche, G., Sessar, K. (Hrsg.). Sozialer Umbruch und Kriminalität in Deutschland. Opladen: Westdeutscher Verlag, 187-253.
Kerner, H.-J.: Kriminologische Forschung im sozialen Umbruch. Ein Zwischenresümee nach sechs Jahren deutsch-deutscher Kooperation. In: Boers, K., Gutsche, G., Sessar, K. (Hrsg.). Sozialer Umbruch und Kriminalität in Deutschland. Opladen, Westdeutscher Verlag, S. 331-372.
1998
Boers, K.: Sozialer Umbruch und Kriminalität in Mittel- und Osteuropa. Gedanken zu einer Tagung. In: Sessar, K., Holler, M. (Hrsg.). Sozialer Umbruch und Kriminalität in Mittel- und Osteuropa. Pfaffenweiler: Centaurus.