„Ein gemeinsames Wort zwischen Uns und Euch“
Interreligiöse Sommerakademie in Rom vom 15. bis 19. Juli 2024
Zum ersten Mal seit der Pandemie öffnete das Team des Lay Centre at Foyer Unitas in Rom wieder seine Türen für eine ausgewählte Gruppe von Studierenden des Tübinger Zentrums für Islamische Theologie (ZITh) und des Cambridge Muslim College (CMC). Im Mittelpunkt der Woche stand – wie in jedem Jahr – der vertiefte Austausch zwischen Muslimen und Christen. Alle Beteiligten hatten die Möglichkeit, bedeutende historische Stätten gemeinsam zu erkunden, die religiösen Lebensweisen der Teilnehmenden besser kennenzulernen, in ausgewählte Themen tiefer einzutauchen und sich intensiv mit Experten und anderen Teilnehmenden über das religiöse Leben und derzeitige Herausforderungen und mögliche Lösungsansätze auszutauschen.
Montag, 15.07.2024: Auftakt und Einführung
Unter der Leitung von Professorin Lejla Demiri (Geschäftsführende Direktorin, Professur für Islamische Glaubenslehre) reisten am 15. Juli acht ZITh-Studierende sowie Dr. Besnik Sinani, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Hadithwissenschaften und prophetische Tradition, nach Rom. Dank eines sehr frühen Flugs konnte die Tübinger Gruppe nach ihrer Ankunft im Lay Centre und vor dem offiziellen Nachmittagsempfang noch eine der vier Papstbasiliken Roms besuchen. In der detailreich und wunderschön gestalteten Santa Maria Maggiore befindet sich die bedeutendste Marienikone Roms. Diese erste Besichtigung eines der wichtigsten katholischen Sakralbauten Italiens war nur ein Vorgeschmack auf die kommende Woche.
Aus Großbritannien kamen am Montagnachmittag acht der diesjährigen CMC-Absolventen, begleitet von der CMC-Programmkoordinatorin Mirina Paananen, dem CISL-Studiengangsleiter Dr. Omar Qureshi und dem Beauftragten für Öffentlichkeitsarbeit Tariq Chow, im Lay Centre an. Nach einem herzlichen Empfang mit Kaffee und Gebäck leitete der neue Direktor des Lay Centre, Dr. Filipe Domingues, die interreligiöse Sommerakademie ein. In seinem Auftaktvortrag gab er einen Überblick über einige der wichtigsten Dokumente der katholischen Kirche: Nostra Aetate (1965), Laudato Si’ (2015), Fratellanza Umana (2019) und Fratelli Tutti (2020).
In der Erklärung Nostra Aetate wird die Bedeutung des interreligiösen Dialogs und des Respekts gegenüber anderen Glaubensgemeinschaften, insbesondere dem Judentum und dem Islam, betont. Das Dokument hebt die Gemeinsamkeiten der Religionen hervor und ruft zu Frieden und Verständnis auf. Die Enzyklika Laudato Si’ befasst sich mit dem dringenden Schutz der Umwelt und mahnt zu einem verantwortungsvollen Umgang mit der Schöpfung. Papst Franziskus fordert darin ein neues ökologisches Bewusstsein und soziale Gerechtigkeit. In Fratellanza Umana wird sich für Brüderlichkeit und ein friedliches Zusammenleben aller Menschen, unabhängig von Religion, Kultur oder ethnischer Zugehörigkeit, ausgesprochen. Des Weiteren wird zur Zusammenarbeit für das Gemeinwohl aufgerufen. Die Enzyklika Fratelli Tutti richtet sich an die gesamte Menschheit und betont die universelle Geschwisterlichkeit. Papst Franziskus fordert Solidarität, soziale Gerechtigkeit und ein gemeinsames Handeln gegen Ausgrenzung und Ungleichheit. Diese Dokumente unterstreichen das Bestreben der katholischen Kirche, globale Herausforderungen durch Dialog, Brüderlichkeit und ökologische Verantwortung zu bewältigen.
Die ZITh-Studierenden hatten im Vorfeld die Pflichtlektüre „A Common Word - Text and Reflections“ gelesen, in der der 2007 von führenden muslimischen Gelehrten verfasste offene Brief „Ein gemeinsames Wort zwischen Uns und Euch“ („A Common Word“) analysiert wird. Dieser Brief betont die gemeinsamen Werte des Islam und des Christentums, insbesondere die Liebe zu Gott und zum Nächsten, als zentrale Lehren beider Religionen. Die muslimischen Verfasser richteten sich an alle führenden christlichen Vertreter weltweit und riefen zu einem intensiven interreligiösen Dialog auf Augenhöhe auf, um Frieden und gegenseitiges Verständnis zu fördern. Namensgeber und zentrales Element des Briefes ist der folgende Vers, der die monotheistischen Schriftreligionen zur Zusammenarbeit aufruft:
„Sprich: O Volk der Schrift! Kommt herbei zu einem Wort, das gleich ist zwischen uns und euch: dass wir Gott allein dienen und ihm nichts beigesellen und nicht untereinander Herren annehmen außer Gott [...] “
(3:64, Übersetzung Bubenheim/Elyas)
Dieser Vers betont den gemeinsamen Glauben an einen einzigen Gott und lädt zu gegenseitigem Respekt und Zusammenarbeit ein. Sowohl die katholischen Dokumente als auch der offene Brief A Common Word unterstreichen, dass durch den Fokus auf gemeinsame Werte wie Liebe, Gerechtigkeit und die Achtung der Schöpfung ein nachhaltiger Dialog entstehen kann, der zur Lösung globaler Konflikte beiträgt und ein friedliches Zusammenleben fördert.
Der erste Abend endete mit einem gemeinsamen Willkommensessen, bei dem die Teilnehmenden wertvolle Impulse von Elena Dini, Programmleiterin des John Paul-II-Zentrums für interreligiösen Dialog, sowie vom britischen Kardinal Michael Fitzgerald, dem Vatikan-Experten für christlich-muslimische Beziehungen, erhielten. Die Schilderungen ihres Arbeitsalltags und ihrer gesammelten Erfahrungen verdeutlichten, wie die Forderungen der vorgestellten Kirchendokumente trotz zahlreicher Herausforderungen mit Leidenschaft und Überzeugung in die Tat umgesetzt wurden.
Dienstag, 16.07.2024: Historische Stätten und aktuelle Herausforderungen
Am zweiten Tag stand ein Besuch der Basilika Sankt Peter im Vatikan auf dem Programm. Christiaan Santini, Betriebsleiter des Lay Centre und Kunsthistoriker, führte uns durch den Petersdom. Mit seinem leidenschaftlichen und sympathischen Führungsstil vermittelte er allen Teilnehmenden die symbolische Bedeutung und Architektur dieses heiligen Ortes auf eindrucksvolle Weise.
Die Mittagspause verbrachte die Gruppe bei der International Union Superiors General (UISG), einer katholischen Organisation, die Ordensschwestern und Nonnen weltweit zusammenbringt und vertritt. Auch sie setzen sich für den interreligiösen Dialog ein und stellten ihre Räume für eine Nachmittags-Session der Sommerakademie zur Verfügung. Dr. Filipe Domingues moderierte ein Panel zu aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen mit den Gästen Wail Halou, Dr. Mauro Garofalo und Blessing Okoedion.
Wail Halou, Finanzbeauftragter des Jesuit Refugee Service (JRS) in Rom, begann 2011 in Aleppo mit dem JRS zusammenzuarbeiten, um das Leben von Binnenvertriebenen in Syrien zu verbessern. Sein Fokus lag damals wie heute nicht auf religiösen Unterschieden, sondern auf den gemeinsamen Werten und Zielen. Er teilte seine persönlichen Erfahrungen und sprach über die Herausforderungen, denen Flüchtlinge heute gegenüberstehen. Halou setzt sich für eine Gesellschaft ohne Überlegenheitsdenken, Klassismus und Rassismus ein und fordert mehr Hilfsbereitschaft von privilegierten Menschen sowie einen Austausch auf Augenhöhe.
Dr. Mauro Garofalo, verantwortlich für die internationalen Beziehungen der Gemeinschaft Sant’Egidio, schilderte, wie seine Organisation weltweit für Minderheiten, den interreligiösen Dialog und den Frieden eintritt. Er berichtete, dass seine Organisation bei großen Konflikten herangezogen wird, um zwischen Regierungen und Bevölkerungsgruppen zu vermitteln, Friedensverträge auszuarbeiten und gemeinsam mit Ehrenamtlichen die hilfsbedürftigsten Menschen weltweit zu unterstützen.
Blessing Okoedion, eine Überlebende des Menschenhandels, erzählte von ihrem fortwährenden Kampf gegen die moderne Sklaverei. Sie betonte, dass Religionsgemeinschaften weltweit zusammenarbeiten müssen, da der Kampf gegen diese Ungerechtigkeit nur gemeinsam gewonnen werden kann. Hinsichtlich der Betreuung von Überlebenden hob sie die Bedeutung einer guten Ausbildung und Vernetzung von Seelsorgern und Sozialarbeitern hervor.
Am Abend versammelte sich eine große Gruppe im Aufenthaltsraum, um Gottes zu gedenken. Dies bot eine wunderbare Gelegenheit für die Bewohner des Lay Centre, in die muslimische Lebensweise einzutauchen und an einer Dhikr-Session teilzunehmen.
Der Gründer des Cambridge Muslim College, Dr. Tim Winter, kam am späten Dienstagabend an.
Mittwoch, 17.07.2024: Wissenschaft und Glaube in Harmonie
Alle Teilnehmenden reiste am dritten Tag gemeinsam nach Castel Gandolfo, dem Sommersitz der Päpste. Papst Franziskus möchte diesen jedoch aufgrund seiner Bescheidenheit nicht nutzen. Dort stand der Besuch des berühmten Vatikanischen Observatoriums auf dem Programm. Pfarrer David Brown, ein Astronom des Vatikans, führte durch das Observatorium und verdeutlichte, wie Wissenschaft und Glaube in Harmonie miteinander bestehen können. Diese horizonterweiternde Erfahrung wurde durch ein gemeinsames Mittagessen mit atemberaubender Aussicht auf den Albaner See und das umliegende Gebirge abgerundet.
Am Nachmittag besuchte die Gruppe die Basilika St. Paul vor den Mauern, eine der bedeutendsten Kirchen Roms. Der ehemalige Abt, Pfarrer Edmund Power, führte die Teilnehmenden durch diese beeindruckende Basilika und erläuterte ihre historische Bedeutung für die frühe Kirche. Der Tag klang mit einem entspannten Spaziergang durch die Stadt und einem gemeinsamen Abendessen in der Nähe des Kolosseums aus.
Donnerstag, 18.07.2024: Kultur und Diplomatie
Dieser Tag begann mit einem Besuch des Forum Romanum und des Kolosseums. Erneut führte Christiaan Santini die Gruppe und vermittelte eindrucksvoll die kulturellen und symbolischen Bedeutungen dieser antiken Stätten.
Zurück im Lay Centre hielt Prof. Francesca Bocca-Aldaqre einen Vortrag über die komplexe Thematik der muslimischen Identität und des Lebens in Italien. Als Leiterin des Averroes-Instituts für Islamische Studien in Piacenza und Mitbegründerin des Islamischen Instituts für weiterführende Studien gab sie wertvolle Einblicke in die Herausforderungen und Ambivalenzen, mit denen Muslime in Italien konfrontiert sind.
Anschließend sprach Prof. Gloria Samuela Pagani von der Universität Salento über Louis Massignons Ansatz zur islamischen Mystik und dessen Bestreben, den Austausch zwischen Christen und Muslimen zu fördern.
Am Nachmittag wurde die Gruppe in der Residenz des deutschen Botschafters beim Heiligen Stuhl empfangen. Dort sprachen sie bei einer Erfrischung mit dem deutschen Botschafter Bernhard Kotsch und der britischen Botschafterin Dr. Annabel Inge über Religionsfreiheit, die heutigen Herausforderungen und die Arbeit als Botschafter.
Der Tag endete mit einem Abschiedsessen im Lay Centre, bei dem Imam Dr. Yahya Pallavicini und sein Sohn Muhammad über die Rolle der Religion in Italien und im modernen Europa sprachen.
Freitag, 19.07.2024: Abschlussreflexion
Der letzte Tag bot Raum für Reflexion und Austausch. Nach dem Frühstück trafen sich die Teilnehmenden zu einer Feedback- und Evaluationsrunde, in der sie ihre Gedanken und Eindrücke der vergangenen Woche zusammenfassten. Dieser Moment der Besinnung ermöglichte es allen, darüber nachzudenken, wie sie die gewonnenen Erkenntnisse in ihr persönliches und berufliches Leben integrieren möchten.
Das Zusammenleben unter einem Dach im Lay Centre bot eine unschätzbare Gelegenheit für Austausch und gegenseitige Bereicherung. Die intensive Erfahrung, nicht nur gemeinsam zu lernen, sondern auch den Alltag zu teilen, vertiefte den interreligiösen Dialog auf natürliche Weise. Neben den zahlreichen bereichernden Erlebnissen, die wir in Rom sammeln durften, bot die Sommerakademie auch eine einzigartige Möglichkeit, tiefere Einblicke in das muslimische Leben in Großbritannien zu gewinnen. Die Absolventen des Programms „Contextual Islamic Studies and Leadership“ des Cambridge Muslim College teilten ihre Perspektiven und Erfahrungen, wie der Islam in Großbritannien gelebt und gelehrt wird. Dieser kulturelle und religiöse Austausch erweiterte das Verständnis für muslimische Gemeinschaften im westlichen Kontext und verdeutlichte die historisch gewachsenen Unterschiede in der religiösen Bildung zwischen Großbritannien und Deutschland.
In Gesprächen während der Mahlzeiten, bei spontanen Diskussionen in den Pausen und beim Erkunden der Stadt Rom entstanden Freundschaften und ein tiefes gegenseitiges Verständnis, das über den akademischen Rahmen hinausging. Die Wirkung dieser vielen Begegnungen wird über die Dauer der Akademie hinausreichen, denn die Sommerakademie Rom 2024 war ein lebendiger Beweis dafür, wie Dialoge auf Augenhöhe stattfinden und prägende Ereignisse sein können. Menschen unterschiedlicher Glaubensrichtungen müssen in einem offenen und respektvollen Umfeld zusammenkommen, damit durch gelebte Gemeinschaft gegenseitige Wertschätzung entsteht und gemeinsame Ziele sichtbar werden.
Danksagung
Ein herzliches Dankeschön an den Universitätsbund für seine Unterstützung und an das Zentrum für Islamische Theologie für die Finanzierung dieser Sommerakademie. Ein besonderes Dankeschön gilt Professorin Dr. Lejla Demiri und dem gesamten Team des Lehrstuhls für islamische Glaubenslehre für die regelmäßige Organisation dieser Sommerakademie. Ohne den Beitrag aller Förderer wäre diese wertvolle Gelegenheit zum interreligiösen Austausch und gemeinsamen Lernen nicht möglich gewesen. Vielen Dank auch an Dr. Besnik Sinani vom Lehrstuhl für Hadithwissenschaften und Prophetische Tradition sowie an Dr. Tim Winter, Mirina Paananen, Dr. Omar Qureshi vom Cambridge Muslim College für ihre Begleitung und wertvollen Impulsen während der Sommerakademie.
Ein besonderer Dank gilt dem Lay Centre, dessen herzliche Gastfreundschaft diese unvergessliche Woche erst ermöglichte. Dr. Filipe Domingues stellte dieses beeindruckende Programm zusammen und begleitete uns bei allen Aktivitäten. Christiaan Santini begeisterte uns mit seiner Expertise und führte uns durch Roms historische Schätze. Carlos und Daniela betreuten uns stets fürsorglich und sorgten dafür, dass wir uns wie zu Hause fühlten. Unser großer Dank gilt auch dem Küchenteam, das auf unsere Bedürfnisse einging und uns mit köstlichen Mahlzeiten verwöhnte, wodurch eine Atmosphäre entstand, die diese Akademie noch unvergesslicher machte. Vielen Dank auch an UISG für die großartige Verpflegung und Nutzung ihre Räumlichkeiten am 16. Juli 2024. Unsere Anerkennung und unser Dank gelten ebenfalls allen weiteren Mitwirkenden, die hier nicht namentlich genannt wurden, jedoch durch ihre Hingabe und Arbeit zum Erfolg der Akademie beitrugen.
Hatice Aslan-Coșkun und Oumaima Soukrat