19.09.2024

„Nicht blind folgen": Forschende beleuchten, wie Menschen trotz individueller Unterschiede von anderen lernen

In internationaler Zusammenarbeit haben Wissenschaftler der Universität Tübingen aufgedeckt, wie Menschen soziale Informationen nutzen, um Entscheidungen zu treffen, auch wenn die Ziele oder Präferenzen anderer von den eigenen abweichen. Die Tübinger Doktorandin Alexandra Witt und ihr Betreuer Dr. Charley Wu leiteten die jetzt in der renommierten Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) veröffentlichte Studie in Zusammenarbeit mit Kollegen von der Universität Konstanz, dem Forschungsinstitut RIKEN (Japan) und der University of St Andrews (Vereinigtes Königreich). Die Ergebnisse ermöglichen es den Forschern nicht nur, einen entscheidenden Aspekt des menschlichen Lernens besser zu verstehen, sondern eröffnen auch neue Wege, um ähnliche Prinzipien in die künstliche Intelligenz (KI) einzubeziehen.

Stellen Sie sich vor, Sie sind zum ersten Mal in einer neuen Stadt und es ist Zeit für ein Abendessen. Wie wählen Sie ein Restaurant aus? Sie könnten einfach im Internet nach Bewertungen suchen und das Restaurant mit der besten Bewertung wählen. Aber wie können Sie sicher sein, dass die Verfasser der Bewertungen Ihre Essensvorlieben, Ihre Gewürztoleranz oder Ihr Budget teilen? Und wie gelingt es Menschen im Allgemeinen, von anderen zu lernen, wenn die Vorlieben von Person zu Person sehr unterschiedlich sein können?

Bislang lag der Fokus der Forschung darauf, wie Menschen voneinander lernen können, wenn alle die gleichen Ziele und Vorlieben teilen. Im Alltag ist das jedoch selten der Fall. Ganz gleich, ob es um die Wahl eines Restaurants, die Planung eines Urlaubs oder eine berufliche Neuorientierung geht, haben die Personen, die wir um Rat bitten, oft ihre eigenen Vorlieben und Umstände. Die neue Studie schließt diese Forschungslücke, indem sie untersucht, wie Menschen soziale Informationen nutzen, um Entscheidungen zu treffen, wenn ihre Präferenzen nicht perfekt mit denen ihrer Mitmenschen übereinstimmen.

Um dieses Phänomen zu untersuchen, entwickelten die Forscher die sozial korrelierte Entscheidungsaufgabe, bei der die Ziele der Teilnehmer ähnlich, aber nicht identisch sind. In einem Onlineversuch, der einem Computerspiel ähnelte, wurden Gruppen von vier Teilnehmern gebeten, möglichst viele Salzproben auf außerirdischen Planeten zu sammeln. Sie konnten dabei auch das Vorankommen der anderen Mitglieder ihres Forschungsteams sehen, die jeweils ein anderes Salz sammelten. Ihnen wurde gesagt, dass der Prozess, durch den die Salze entstehen, ähnlich ist, sodass sich Regionen mit hohen Salzkonzentrationen oft überschneiden. Für die Teilnehmer hieß das, dass es für ihre eigene Suche nach Salz hilfreich sein konnte, die Information ihrer Teammitglieder einzubeziehen. Dies spiegelt wider, wie sich im wirklichen Leben die Vorlieben aller Menschen (z. B. ein leckeres Abendessen) ähneln können, aber doch gewisse individuelle Unterschiede bestehen (z. B. wie scharf das Abendessen sein soll).

Die Ergebnisse zeigen, dass Menschen soziale Informationen als Entscheidungshilfe nutzen, allerdings nicht blind — sie behandelten soziale Informationen als verrauschter und damit weniger zuverlässig als Informationen, die sie selbst gesammelt hatten. Dies deckt sich mit den Vorhersagen des Modells der sozialen Generalisierung (SG). Dieses neue Modell, das in dem Artikel vorgestellt wird, übertrifft eine Reihe anderer Modelle aus früheren Theorien bei der Vorhersage von Verhalten. “Im Gegensatz zu Modellen aus der bisherigen Literatur erklärt unser SG-Modell, wie Menschen soziale Informationen mit individuellen Informationen kombinieren können, anstatt blind zu imitieren”, erklärt Hauptautorin Alexandra Witt.

Nehmen Sie als Beispiel, wie Sie selbst Online-Rezensionen nutzen können —  es kann zwar hilfreich sein, zu wissen, dass anderen ein Produkt gefiel, aber Sie können nicht sicher sein, dass die anderen dieselben Maßstäbe haben wie Sie selbst. Sie müssen auch Ihre eigenen Vorlieben bedenken. Dennoch ist es immer noch besser, die Produktbewertungen zu kennen, als jedes Produkt selbst ausprobieren zu müssen. Genau das ist es, was das SG-Modell erfasst — Menschen behandeln soziale Informationen als Empfehlung, nicht als Vorgabe.

Darüber hinaus stellten die Forscher fest, dass Menschen soziale Informationen als Erkundungsinstrument nutzen. Individuelle Erkundung kann sowohl kognitiv als auch in Bezug auf das Risiko kostspielig sein. Wenn soziale Informationen zur Verfügung stehen, verlassen sich die Teilnehmer auf sie, um ihre Entscheidungen zu treffen, und ersparen sich so den kostspieligen individuellen Erkundungsprozess.

Warum ist das überhaupt wichtig?  „Obwohl die jüngsten Fortschritte die Leistungsfähigkeit der künstlichen Intelligenz (KI) unter Beweis gestellt haben, tut sie sich immer noch damit schwer, in ähnlichem Maße sozial zu lernen wie der Mensch“, sagt Seniorautor Charley Wu, der das Human and Machine Cognition Lab an der Universität Tübingen leitet. „Es ist unsere Fähigkeit zum sozialen und kulturellen Lernen, die den Menschen von anderen Tieren abhebt. Mit einem besseren Verständnis für soziales Lernen im Menschen, können wir ähnliche Prinzipien in die künstliche Intelligenz einbeziehen, um Systeme zu entwickeln, die menschliches Verhalten besser verstehen und nachahmen, beispielsweise in virtuellen Assistenten oder Empfehlungsalgorithmen“. Letztlich ist soziales Lernen eines der mächtigsten Werkzeuge des Menschen, und diese Forschung bringt uns dem Verständnis dieser beeindruckenden Fähigkeit näher.

Veröffentlichung:

Witt, A., Toyokawa, W., Lala, K. N., Gaissmaier, W., & Wu, C. M. (2024). Humans flexibly integrate social information despite interindividual differences in reward. Proceedings of the National Academy of Sciences, 121(39), e2404928121.
https://doi.org/10.1073/pnas.2404928121

Open access preprint: https://osf.io/preprints/psyarxiv/e4g3q

Kontakt:

Dr. Charley M. Wu
Leiter der unabhängigen Forschungsgruppe “Human and Machine Cognition Lab
Exzellenzcluster "Maschinelles Lernen"
Universität Tübingen
charley.wuspam prevention@uni-tuebingen.de

Pressekontakt:

Theresa Authaler
Referentin für Medien- und Öffentlichkeitsarbeit
Exzellenzcluster “Maschinelles Lernen: Neue Perspektiven für die Wissenschaft”
Universität Tübingen
theresa.authalerspam prevention@uni-tuebingen.de
+49 162 1788206

 

Zurück