Uni-Tübingen

Workshop „Bittschriften als Quellen der Armutsforschung“, 6. und 7. September 2012, Universität Tübingen

Bericht von Chelion Begass, Jacek Klimek und Johanna Singer

Am 6. und 7. September 2012 fand in der Neuen Aula der Universität Tübingen der Workshop „Bittschriften als Quellen der Armutsforschung“ statt, zu welchem die Leiter und Mitarbeiter des SFB-Teilprojektes D03 „Adel und Bürgertum. Arme Adlige zwischen konkurrierenden Gesellschaftsordnungen 1700-1900“ eingeladen hatten. Im Mittelpunkt standen drei zentrale, sich aus den Dissertationen der Mitarbeiter im Zusammenhang mit Bittschriften ergebende Quellenprobleme: Semantiken der Armut, die Frage nach dem Verhältnis von Individualität und wiederkehrenden Mustern sowie die Problematik der Glaubwürdigkeit.


Einleitend führte Prof. Dr. Ewald Frie (Universität Tübingen) die Anwesenden in die zentralen Fragestellungen nach der sozial- und/oder kulturhistorischen Zugangsweise zu Bittschriften als historischen Quellen sowie der Bedeutung des armen Adels für sowohl die Armuts- als auch die Adelsforschung ein. Daran anschließend umriss Prof. Dr. Thomas Sokoll (Fernuniversität Hagen) anhand der von ihm untersuchten englischen „pauper letters“ der „labouring poor“ nicht nur die Methodik des Umgangs mit historischen Bittschriften, sondern auch Ergebnisse der Auswertung der englischen Quellen. Die klassische Armutsgeschichte der Unterschichten sollte auch im weiteren Verlauf des Workshops als Kontrastfolie für die „Armutsgeschichte von oben nach unten“ der bedürftigen adligen Petenten dienen.


Anschließend referierte Chelion Begass (Universität Tübingen) über die Semantik der Armut in den Bittschriften „armer Adliger“ an den preußischen König und dessen Behörden um 1800. Sie deckte die Argumentationsstrategien der Bittsteller vor dem Hintergrund der oft formelhaften Sprache der Gesuche auf und erörterte daran anschließend Chancen und Grenzen der Quellengattung für sozialhistorische Fragestellungen. Im Kommentar Dr. Dietlind Hüchtkers (Universität Leipzig) sowie in der folgenden Diskussion standen die mögliche Verbindung von Sozialgeschichte und semantischer Interpretation und die Frage nach dem Zusammenhang von Armut und Geschlecht im Zentrum.


Die zweite Sektion des Workshops stand unter der Überschrift „Individualität und allgemeine Tendenzen“ und wurde durch einen Vortrag Johanna Singers (Universität Tübingen) zum Spannungsverhältnis zwischen individuellen Schicksalen und wiederkehrenden Mustern in den Bittgesuchen württembergischer adliger Fräulein in der Zeit um 1900 eingeleitet. Der Kommentar von Prof. Dr. Thomas Sokoll und die Diskussion fokussierten neben der Methode der statistischen Auswertung und der historischen Einordnung solcher Gesuche besonders die Empirie der Lebenswelten der betroffenen adligen Damen verbunden mit der Frage nach der Definition von Armut in diesem Kontext sowie die für die Bittschriften typische Rhetorik der „Würdigkeit und Bedürftigkeit“.


Der zweite Veranstaltungstag stand zunächst ganz im Zeichen der Glaubwürdigkeitsproblematik. Jacek Klimek (Universität Tübingen) verdeutlichte diese eindrücklich anhand divergierender Aussagen von Schuldnern und Gläubigern wie sie in den Akten der Reichsdebitkommissionen im Zusammenhang mit dem Schuldenwesen schwäbischer Reichsritter Mitte des 18. Jahrhunderts auftreten.


Der Vortrag wurde kommentiert von Dr. Christian Wieland (TU Darmstadt). Diskutiert wurden besonders die Frage nach Armut als Selbstbeschreibung, die Spezifika adliger Armut und die argumentativen Strategien in den Debitkommissionsakten.


Der zusammenfassende Kommentar von Prof. Dr. Monika Wienfort (TU Berlin/FRIAS) bündelte aus adelshistorischer Perspektive die sich in den Diskussionen herauskristallisierenden Themen und fragte nach der politischen und sozialen Relevanz von Verarmungsprozessen innerhalb des Adels. Dazu regte sie eine verstärkt quantitative Erfassung, die Berücksichtigung der Binnen- und Außenwahrnehmung, sowie einen internationalen Vergleich des Phänomens „armer Adel“ an. In der Diskussion des abschließenden Round Table wurden nochmals der Zusammenhang von Adels- und Armutsforschung, die Chancen, die ein geschlechtergeschichtlicher Zugang für das Thema bietet und die Relevanz des Themas für die Frage nach „bedrohten Ordnungen“ in den Blick genommen.