Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 4/2019: Alumni Tübingen

„Über die Ränder der Studienfächer hinausschauen, offen sein, nicht die bequemste Antwort suchen“

Interview mit dem Journalisten Hans-Joachim Lang, Alumnus und Honorarprofessor für Empirische Kulturwissenschaft

Hans-Joachim Lang studierte an der Universität Tübingen Germanistik, Kultur- und Politikwissenschaft und promovierte 1980 im Fach Germanistik. Von 1982 bis 2016 war Lang Redakteur beim Schwäbischen Tagblatt in Tübingen, seit 2013 ist er als Honorarprofessor für Empirische Kulturwissenschaft an der Universität tätig. Im September 2019 wurde Hans-Joachim Lang mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet. Lang erhielt die Auszeichnung für seine Forschungen über Opfer des Nationalsozialismus. Meist stehen sie im Mittelpunkt seiner Arbeiten, und wo sie namenlos überliefert sind, richtet er teils langjährige Recherchen darauf, sie zu identifizieren. Daraus entstanden etliche Bücher und zahlreiche Aufsätze. 

Welche Erinnerungen verbinden Sie mit Ihrem Studium in Tübingen?

In meiner Studienzeit war die Eberhard Karls Universität dem Ansturm der Studierenden kaum gewachsen. Die Folge waren ziemlich große Seminare mit teils überforderten Lehrenden, die wenig Orientierung zu geben vermochten. Das war für mich – Ankömmling aus der Provinz ohne bildungsbürgerliche Wurzeln – anfangs nicht ganz einfach. Doch nach einer gewissen Zeit begann ich die großen Freiheiten zu entdecken und zu lieben. Nämlich ausgiebig auch über die engen Fachgrenzen hinauszuschauen und mit Kommilitonen in Wohngemeinschaften selbstbestimmte Lebensformen zu finden. Nicht alles war befriedigend, aber alles in allem war diese Zeit enorm lebensbereichernd.

Sie waren über 30 Jahre Journalist. Wie hat Ihr Studium Sie darauf vorbereitet?

Überhaupt nicht. Denn so lange ich studierte, ahnte ich nicht im Geringsten, dass ich einmal Journalist werden könnte. Massenmedien interessierten mich zwar, weshalb ich etliche Seminare zu verschiedenen Aspekten dazu belegte, auch Magister- und Doktorarbeit über politische Werbung in den Massenmedien verfasste. Aber mit praktischem Journalismus hatten diese Themen nichts zu tun, eher führten sie davon weg. Gleichwohl habe ich von meinem Studium sehr profitiert. Methodisch am ehesten in der Alltagsorientiertheit der Empirischen Kulturwissenschaft und sprachlich im vertieften Interesse an Belletristik.

Ein wichtiges Thema Ihrer Arbeit ist der Holocaust – wie sind Sie zu diesem Thema gekommen?

Vor allem durch ein frühes Interesse an Geschichte und Demokratiegeschichte. Das macht empfindsam auch für Störungen und Zerstörungen demokratischer Ordnungen. Und ganz konkret: Als freier Mitarbeiter des „Schwäbischen Tagblatts“ hatte ich 1981 die besondere Gelegenheit, Tübinger kennenzulernen, die Jahrzehnte zuvor aus ihrer Heimatstadt vertrieben worden waren. Sie waren damals von der Stadt eingeladen worden und ich konnte am Rande der offiziellen Termine mit diesen Leuten ins Gespräch kommen und die gemeinsame Stadt auch mit ihren Augen entdecken. Die Erzählungen haben mich zutiefst bewegt. Ich begriff diese Begegnungen als eine nachdrückliche Aufforderung, dunkle Flecken der neueren Geschichte nicht nur freizulegen, sondern bei aller Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit stets auch konkret zu werden.  

Welches ist die für Sie wichtigste/bedeutendste Arbeit in diesem Zusammenhang?

Bei journalistischen Recherchen stieß ich auf Tübinger Bezüge zu einem grausamen Mediziner-Verbrechen: die Ermordung von 86 jüdischen Frauen und Männern für das Projekt, das Anatomische Universitäts-Institut der einstigen Reichsuniversität Straßburg mit einer rassenideologischen Skelettsammlung auszustatten. Als ich erfuhr, dass niemand wusste, wer diese 86 Menschen waren, habe ich in meiner Freizeit begonnen, deren Namen und Biographien herauszufinden. Es ist mir nach jahrelangen Recherchen gelungen, aber losgekommen bin ich davon nicht mehr. Noch immer finde ich Quellen. Seit drei Jahren bin ich auch Mitglied einer internationalen Historikerkommission, die sich mit der Medizin-Fakultät an der damals deutschen Reichsuniversität Straßburg beschäftigt. 

Was raten Sie heutigen Studierenden im Hinblick auf Studium und Berufswahl?

Die Berufswahl nicht zu früh einengen, über die Ränder der Studienfächer hinausschauen, offen sein, Interessen mutig kombinieren, auch in Alltagsfragen nicht die bequemste Antwort suchen. 

Das Interview führte Simona Steeger

Projektseite "Die Namen der Nummern"