Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 3/2020: Forschung

„Für gute Entscheidungen benötigt man gute Vorhersagen“ – Peter Dayan forscht an der Schnittstelle von KI und Hirnforschung

Pionier auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz: Der Neurowissenschaftler und Humboldtprofessor Peter Dayan im Interview

Peter Dayan ist einer der weltweit führenden Experten auf dem Gebiet der theoretischen und experimentellen Neurowissenschaft. Dayan, 54, ist geschäftsführender Direktor am Tübinger Max-Planck-Institut für Biologische Kybernetik und hält eine Humboldt-Professur, den höchst dotierten Forschungspreis Deutschlands, im Fachbereich Informatik an der Universität Tübingen. Seit langem befasst er sich mit Fragestellungen an der Schnittstelle von Neurowissenschaft, Medizin und Maschinellem Lernen und gilt auch als Pionier auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz. Im Interview beschreibt Dayan unter anderem seine Faszination für dieses Fachgebiet und wie er sich in Tübingen eingelebt hat.

Herr Professor Dayan, vor etwa eineinhalb Jahren sind Sie nach Tübingen gezogen. Haben Sie sich gut eingelebt?

Ich habe zuvor in London gelebt, da war der Umzug natürlich eine große Umstellung. Genau genommen war ich, bevor ich hierher kam, in meinem Sabbatical in San Francisco. Tübingen ist schön. Ich habe kein Auto, so dass es sehr anstrengend ist, die Hügel in der Stadt rauf und runter zu laufen – ich hoffe, ich bin nun ein bisschen fitter als vorher. Was das starke akademische und intellektuelle Umfeld betrifft, so ist die Universität Tübingen fantastisch. Meine Frau arbeitet ebenfalls an der Universität und bei Max Planck, und wir haben die Zeit hier bislang sehr genossen. Eine der größten Umstellungen, wenn man von einer Metropole in eine kleinere Stadt zieht: Man kann nicht einmal in den Bus einsteigen, ohne jemanden zu treffen, den man kennt – sei es ein Student oder eine Kollegin. Natürlich hatten wir das große Glück, während der Coronavirus-Pandemie in Deutschland zu sein. Ich denke, das Land hat die Situation sehr gut gemeistert.

Wurde Ihre Arbeit durch die COVID-19-Pandemie beeinträchtigt?

Da meine Arbeit hauptsächlich theoretischer Natur ist und die meisten unserer Experimente online durchgeführt werden können, sind diese Aspekte meiner Arbeit nicht dramatisch beeinflusst worden. Natürlich hat die Tatsache, dass wir uns nicht persönlich treffen konnten, die Mitglieder der Forschungsgruppe in mehrfacher Hinsicht beeinflusst. Glücklicherweise sind wir kein sehr großes Institut, und wir konnten trotzdem Experimente vor Ort durchführen – vorausgesetzt, wir konnten den entsprechenden Abstand einhalten.

Wie finden Sie sich in Ihrer neuen Arbeitsumgebung zurecht?

Am Max-Planck-Institut gibt es aktuell viele Veränderungsprozesse, die sich im Laufe der Zeit entwickeln. Wir befinden uns gerade beim Übergang von der zweiten Generation des Instituts in die dritte. Es ist großartig, das Team in meinem Labor in der Abteilung „Computational Neuroscience“ aufzubauen und ein paar Dinge, an denen ich arbeite, neu auszurichten.

Was sind Ihre Hauptprojekte an der Universität Tübingen?

An der Universität ist einer meiner Schwerpunkte die International Max Planck Research School (IMPRS), für die ich gemeinsam mit den Professoren Cornelius Schwarz und Marc Himmelbach sowie dem Graduate Training Centre of Neuroscience (GTC) erfolgreich neue Fördermittel beantragt habe. Wir versuchen, ein integriertes Doktorandenprogramm aufzubauen, das Studierende mit einem Bachelor-Abschluss rekrutieren und letztlich zu einer Promotion führen soll. Dies entspricht nicht der gängigen deutschen Praxis oder dem Bologna-Modell. Es war interessant, in sehr enger Zusammenarbeit mit der Universität ein Programm zu entwickeln, das sowohl den Bedürfnissen der Studierenden als auch der beteiligten Forschungseinrichtungen entspricht und das zugleich auch mit den Exzellenzprinzipien des GTC sowie den deutschen Vorschriften übereinstimmt. Der erste Jahrgang wird im Herbst beginnen.

Sie wurden mit der Humboldt-Professur 2020 der Alexander-von-Humboldt-Stiftung ausgezeichnet. Welche Projekte planen Sie in diesem Kontext an der Universität?

Meine Arbeit im Rahmen der Humboldt-Professur hat noch nicht vollständig begonnen. Sie hätte eigentlich in dem Moment losgehen sollen als die Pandemie ausgebrochen ist. Es ist schwierig, Leute einzustellen, wenn man sie nicht persönlich treffen kann – zumal einige Bewerberinnen und Bewerber aus dem Ausland darunter sind. Aber die Universität, das Rektorat und die gesamte Verwaltung haben mich unglaublich gut unterstützt. Ich freue mich wirklich darauf, diese Humboldt-Gruppen aufzubauen, sobald die Auswirkungen des Virus nachlassen.

Ihre Forschung konzentriert sich auf die Entscheidungsprozesse im Gehirn, die Rolle der Neuromodulatoren, also chemischen Substanzen, die die Arbeitsweise des Nervensystems beeinflussen, sowie auf neuronale Fehlfunktionen bei psychiatrischen Erkrankungen. Sie gelten auch als Pionier auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz (KI). Warum haben Sie sich für diese Bereiche entschieden? Was hat Sie inspiriert, mit Ihrer Forschung diese Richtung einzuschlagen?

Ursprünglich war ich in meinem Grundstudium Mathematiker. Allerdings hatte ich mich schon in der Anfangszeit der Heimcomputer für die Entwicklung von Systemen interessiert, die Intelligenz simulieren können. Als ich gerade mein Grundstudium abgeschlossen hatte, erschien ein wegweisendes Buch mit dem Titel „Parallel Distributed Processing“ von David Rumelhart und Jay McClelland. Ich hatte das große Glück, zu dieser Zeit Doktorand zu sein. Es war eine dieser epochalen Veränderungen im Denken über die Neurowissenschaft und neuronale Netzwerke. Ich lernte einige der Leute kennen, die an dieser Arbeit beteiligt waren, und habe auf dem Gebiet promoviert, das wir heute in der Computer-Neurowissenschaft als die Schnittstelle zwischen Biologie, Psychologie und KI betrachten würden. Ich interessierte mich für das Verhalten von Tieren und für die Art und Weise, wie wir und andere Lebewesen gute und schlechte Entscheidungen treffen. Als Postdoc war ich anschließend noch viel direkter mit der Neurowissenschaft verbunden.

Die Entscheidungsfindung ist einer der wenigen Bereiche der Neurowissenschaften, in denen wir verschiedene Analyseebenen miteinander verknüpfen können: Wir befassen uns mit den rechnerischen oder vielleicht ethologischen Zielen der Wahl, den Algorithmen oder psychologischen Prozessen, die dabei eine Rolle spielen, und dann mit den neuronalen Substraten. Die KI ist vor allem an den ersten beiden interessiert – und es gibt dabei große Synergien mit natürlichen Systemen.

In der jüngeren Vergangenheit haben Sie sich auch mit schlechten Entscheidungen befasst...

Nach etwa 20 Jahren, in denen ich mich mit qualitativ guten Entscheidungsprozessen befasst hatte, schien es ein guter Zeitpunkt zu sein, um darüber nachzudenken, was passiert, wenn Menschen,  Tiere und Maschinen Entscheidungen treffen, die entweder aus subjektiver oder objektiver Sicht suboptimal sind. Das hat mich dazu gebracht, über Psychiatrie nachzudenken. Das hing teilweise mit den Menschen zusammen, mit denen ich damals in London arbeitete, die wiederum neurologische und psychiatrische Erkrankungen untersuchten. Und es stimmte auch mit der Beobachtung vieler Psychiater überein, dass die verfügbaren Tests und Analysen nur unzureichend vorhersagend sind, was die Prognose, die Wahl oder Verbesserung der Behandlung betrifft. Außerdem basierten die Tests und Analysen häufig nicht auf dieser Art von mehrstufigen Analyseverfahren, über die ich gerade gesprochen habe. Natürlich läuft in der Psychiatrie nicht alles auf unglückliche Entscheidungen hinaus – aber dort setzt unsere Forschung an.

Was ist also der rote Faden in Ihrer Forschung? Der Zusammenhang zwischen der Fähigkeit, Vorhersagen zu machen, und der Entscheidungsfindung?

Grob gesagt: Um gute Entscheidungen zu treffen, muss man in der Lage sein, gute Vorhersagen zu machen. Man muss die Auswirkungen seiner Entscheidungen vorhersagen – nicht nur kurzfristig, sondern auch langfristig. Vorhersagen sind also zentraler Bestandteil der Entscheidungsfindung. Ein weiterer ist die Repräsentation, also die Informationsverarbeitung im Gehirn, die eng damit zusammenhängt, wie wir von einer Situation zur anderen verallgemeinern.

Der Begriff künstliche Intelligenz ist für die meisten Menschen außerhalb der Welt der Informatik noch recht abstrakt. Wie würden Sie ihn beschreiben?

Wie viele Wörter oder Konzepte, die zu oft wiederholt werden, läuft die Bedeutung des Begriffs KI vielleicht Gefahr, etwas zu verwässern. Auf der einen Seite gibt es menschliche Verhaltensweisen, die eine flexible Problemlösung zu erfordern scheinen, indem sie Informationen aus der Vergangenheit und zuvor erworbene Fähigkeiten auf adaptive Weise ausnutzen. KI strebt danach, diese Fähigkeit auf Computer und Roboter zu übertragen und dramatisch zu verbessern. Denn man kann nicht sagen, dass der Mensch der Gipfel der Intelligenz ist – genauso wenig wie wir zum Beispiel die besten Arithmetik-Rechner sind. Auf der anderen Seite gibt es Verhaltensweisen, wie beispielsweise elegant über unwegsames Gelände zu laufen, die wir Menschen als einfach empfinden – vorausgesetzt, wir denken nicht zu viel darüber nach. Ein Ziel der KI-Wissenschaft ist auch, dass diese Verhaltensweisen von künstlichen Systemen ausgeführt werden. In beiden Fällen wird KI einen neuen Werkzeugkasten hervorbringen, der es uns ermöglicht oder uns dabei hilft, Dinge zu tun, die wir vorher nicht tun oder nicht automatisieren konnten.

Was könnte ein Beispiel für einen Bereich des täglichen Lebens sein, in dem mittels KI große Innovationen erzielt werden können?

Ich bin Grundlagenforscher, daher sage ich hier meine Meinung als normaler Bürger und nicht als Fachmann. Ein Beispiel, das für mich auf der Hand liegt, ist die automatisierte Mobilität – selbstfahrende Autos zum Beispiel, ein Fachgebiet von Professor Andreas Geiger im Cyber Valley. Meine Kinder haben keinen Führerschein gemacht, sie hoffen also auf rasche Fortschritte!

Das Interview führte Lennart Schmid

Videoporträt Peter Dayan (Alexander von Humboldt-Stiftung)

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Konferenz „Machine Learning in Science” vom 21. bis 23. Juli 2020

Der Exzellenzcluster „Maschinelles Lernen: Neue Perspektiven für die Wissenschaft“ hält seine jährliche Konferenz „Machine Learning in Science“ dieses Jahr online ab. Die Veranstaltung ist öffentlich und findet vom 21. bis zum 23. Juli jeweils nachmittags statt. Sie richtet sich nicht nur an Experten des Maschinellen Lernens, sondern auch an Interessierte anderer wissenschaftlicher Disziplinen. Auch Peter Dayan ist mit einem Vortrag zu Modelling and Manipulating Behaviour Using Recurrent Networks bei der Konferenz dabei.

Das vorläufige Programm sowie alle Informationen zu Registrierung und Livestreams sind auf der Webseite des Exzellenzclusters zu finden: https://uni-tuebingen.de/forschung/forschungsschwerpunkte/exzellenzcluster-maschinelles-lernen/veranstaltungen/veranstaltungen/#c998181