Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 3/2020: Uni intern

Die Frau, die für internationale Gäste Berge versetzt

Ein Interview mit Kirsten Sonnenschein, Leiterin des Welcome Centers

Wie sieht ein typischer Arbeitstag im Welcome Center aus?

Einen typischen Arbeitsalltag gibt es bei uns nicht. Wir arbeiten für Menschen, unsere Aufgaben orientieren sich an deren aktuellen Bedürfnissen und Fragen. Unsere internationalen Gäste wenden sich vor und während ihres Tübingen-Aufenthalts mit allen Fragen des Alltags an uns. Das geht los bei Visa-Bestimmungen und Wohnungssuche, geht über die Anmeldung der Kinder bei Schule oder Kindergarten, bis hin zur Jobsuche für den mitreisenden Partner. Wir beraten die Gastwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler zudem in besonderen Lebenssituationen, wie zum Beispiel bei Krankheit oder Schwangerschaft. Mein Job hat auch psychologische Aspekte. Dann kommt mir meine ehrenamtliche Ausbildung zur Krisenbegleiterin zugute. Oft verweisen wir aber auch weiter an Einrichtungen, die bei speziellen Themen beraten, wie an den Ombudsmann oder die psychosoziale Beratungsstelle.

Wie sind Sie zum Welcome Center gekommen?

Vielleicht ist das Welcome Center eher zu mir gekommen. Nach meinem Studium der Neueren Deutschen Literatur, Medienwissenschaft, Amerikanistik und Europäischen Ethnologie war ich zunächst in der freien Wirtschaft tätig. 2003 wechselte ich an die Universität und habe ab 2007 als Assistentin des Dezernenten im International Office gearbeitet. In dieser Position habe ich am Konzept für ein Welcome Center mitgewirkt. Das Projekt war eigentlich für eine Ausschreibung der Alexander von Humboldt-Stiftung gedacht. Die Förderung ist nicht zustande gekommen, aber einige Zeit später beschloss das Rektorat, das Welcome Center unabhängig davon umzusetzen. Mein damaliger Vorgesetzter hat mich ermutigt, mich auf die dafür geschaffene Stelle zu bewerben. Dafür bin ich heute noch dankbar. Denn ich weiß nicht, ob ich mich ohne diese Aufforderung getraut hätte. Dank der Erfahrung, die ich vorher bei der Konzept-Entwicklung für das Welcome Center sammeln durfte, habe ich diese wunderbare Stelle dann auch bekommen. 

Warum kommen Sie gerne zur Arbeit?

Ich arbeite sehr gerne mit Menschen und in einem internationalen Umfeld. Und mir gefällt, dass ich mit dem Welcome Center strukturell etwas Neues aufbauen konnte. Eine Tätigkeit nach Schema F ist nichts für mich, ich brauche die Abwechslung im Job. Oft schauen Gäste auch ohne Termin bei uns vorbei. Insofern kann es häufig etwas chaotisch werden, dafür aber nie langweilig. 

Besonders toll finde ich, dass wir vielen Menschen helfen können – das macht mich zufrieden und glücklich. Wir bekommen sehr viel Dankbarkeit von den Gästen und den gastgebenden Instituten zurück. Mein persönliches Ziel ist es, dass unsere Gäste zu Hause von Tübingen schwärmen, das ist die beste Werbung für die Universität und den Standort Tübingen.

Was ist aus Ihrer Sicht wichtig, damit sich internationale Wissenschaftler/innen an der Uni Tübingen wohlfühlen?

Wohnraum

In Tübingen ist es leider nicht immer einfach, eine Wohnung oder ein Zimmer zu finden. Die Universität unterhält zwar 42 Wohnungen, 23 Zimmer und noch ein paar Zimmer für Doktoranden im Studierendenwohnheim, insgesamt müssen wir aber durchschnittlich 600 neu anreisende internationale Gäste jährlich unterbringen. Das ist eine Herausforderung, aber für Gäste natürlich ein ganz zentraler Punkt, um sich in Tübingen wohl zu fühlen. 

Zugehörigkeitsgefühl

Wichtig ist auch, dass man den Gästen ein Zugehörigkeitsgefühl zur Uni vermittelt, das beginnt schon bei so einfachen Dingen wie einem eigenen Schlüssel, einer Uni-E-Mail-Adresse und einer Chipkarte für die Mensen und Bibliotheken.

Soziales Umfeld

Ein weiterer Baustein sind unsere Social Events. Aufgrund der Corona-Krise dürfen wir sie im Moment nicht durchführen, aber sonst organisieren wir ein bis zweimal im Monat Veranstaltungen für die Gäste und ihre Familien. Das geht vom interkulturellen Workshop über Stammtische, Barbecue, Christmas Party bis hin zu Wanderungen. Wichtig ist natürlich auch, dass sich das gastgebende Institut kümmert und die Gäste einbindet.

Welches war das außergewöhnlichste Anliegen, bei dem Sie weitergeholfen haben?

Es gab einmal eine US-Forscherin, die am Ende ihres Tübinger Aufenthalts war. Der Arbeitsvertrag war bereits ausgelaufen. Damit hatte sie weder Krankenversicherung noch Einkommen, die Wohnung war ebenfalls schon gekündigt. Sie wollte Tübingen in zwei Wochen verlassen, es haben sich dann aber plötzlich Komplikationen bei ihrer Schwangerschaft ergeben. Sie musste ins Krankenhaus und dann vor Ort bleiben, da sie die Monate bis zur Geburt liegend verbringen sollte. Ich habe mich drei Tage lang ausschließlich darum gekümmert, ihr zu helfen. Zusammen mit ihrem Mann habe ich Arbeitslosengeld beantragt, wir haben dafür gesorgt, dass sie wieder eine Wohnung bekamen, und mit Hilfe des Kanzlers konnte ich dann auch noch erreichen, dass ihr Arbeitsvertrag verlängert wurde. Somit war sie wieder krankenversichert und konnte ihr Baby in Deutschland zur Welt bringen. Der Ehemann hat mich Bekannten mit dem Satz vorgestellt: „Das ist die Frau, die Berge versetzen kann“. Es war für mich eine sehr intensive und bewegende Zeit. 

Was machen Sie nach Feierabend?

Die Anliegen unserer Gäste beschäftigen mich häufig auch noch nach Feierabend. Meinen Kopf bekomme ich dann am besten beim Klettern frei. Eigentlich habe ich Höhenangst, daher muss ich mich in der Höhe umso mehr konzentrieren. Dann denke ich nicht mehr an Visa und Co. Außerdem tanze ich gerne Lindy Hop, arbeite im Garten, spiele Boule und wandere. Manchmal sitze ich aber auch ganz profan mit einer Tüte Chips vor dem Fernseher und lasse mich berieseln.

Das Interview führte Mareike Schlotterbeck