Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 4/2021: Studium und Lehre

Wie wurden im Mittelalter abstrakte Ideen und komplexe Themen anschaulich vermittelt?

Eine digitale Ausstellung wirft einen Blick auf Personifikationen in der Literatur und Kunst des Mittelalters

Seit 2019 untersucht ein Projekt des Sonderforschungsbereichs 1391 „Andere Ästhetik“ mittelalterliche Personifikationen in der Literatur und der Kunst. Die Projektverantwortlichen Sandra Linden aus der Germanistik und Daniela Wagner aus der Kunstgeschichte wollen anhand der Gestaltung der Figuren verstehen, wie im Mittelalter Vorstellungen, Ideen und komplexe Sachverhalte anschaulich vermittelt wurden. In einer digitalen Ausstellung wird die Arbeit des Projekts nun der Öffentlichkeit präsentiert. 

Personifikationen sind Verkörperungen von abstrakten Dingen, also etwa von Gefühlen wie Liebe und Hass oder auch von Ideen wie Vergänglichkeit und Tod. Aber auch weniger Abstraktes kann personifiziert werden, wenn ihm eine Stimme und die Fähigkeit zu handeln verliehen wird, solche Beispiele finden sich auch in unserem Alltag, etwa wenn wir sagen, „die Kälte hat das Land im Griff“, oder wenn ein Corona-Virus mit grimmigem Gesicht dargestellt wird. Auch im Mittelalter war die (bild)rhetorische Figur der Personifikation ein beliebtes Mittel, um Abstraktes zu veranschaulichen und einen Bezug zum Leben der Menschen herzustellen. 

Die Ausstellung zeigt, dass Personifikationen im Mittelalter für die verschiedensten Zwecke eingesetzt wurden und sowohl den einfachen Leuten als auch dem Klerus, Bürgern und Königen als Identifikationsfiguren dienten. So richtete sich der Fürst der Welt an der Nürnberger Sebalduskirche an alle, die an ihm vorbeikamen und erst sein schönes Gesicht, dann aber seinen von Würmern zerfressenen Rücken sahen. Die Figur mahnte die Flüchtigkeit des Irdischen an, das heute noch schön und reizvoll scheint, morgen aber vergangen und wertlos ist.

Andere Personifikationen hingegen zielten eher auf das Publikum am Hof, wie etwa Minne (die Liebe) und Hass, die in Hartmanns von Aue Roman „Iwein“ gemeinsam das Herz bewohnen, was wie im Leben für reichlich Konflikte sorgt.

Um eine Brücke zu schlagen zwischen Mittelalter und Gegenwart einerseits und virtuellem und realem Raum andererseits, wurde am Eröffnungstag der Ausstellung Mitte Oktober eine neue Personifikation geschaffen:
 

Der Graffiti-Writer mit dem Künstlernamen Seler (Loc) entwarf eigens für das Projekt den personifizierten „Insta Fame“ und sprayte die Figur auf eine für Malereien freigegebene Wand unter der Blauen Brücke in Tübingen. Der Insta Fame ist eine moderne Adaption der Fama, also der Personifikation des Ruhms, die – unbeständig wie eh und je – verkabelt und in Selfie-Pose auf einer Kugel balanciert. 

Zu sehen ist die Ausstellung unter: personifikationen.andere-aesthetik.de 

Daniela Wagner

Infos zur Ausstellung:

Die Ausstellung „Personifikationen. Begriffe, Ideen und ihre mittelalterlichen Verkörperungen“ entstand im Sommersemester 2021 als Teil des von Sandra Linden (Germanistik) und Daniela Wagner (Kunstgeschichte) geleiteten Projekts „Handelnde Personifikationen als ästhetische Reflexionsfigur in der Literatur und Kunst des Mittelalters“ im SFB 1391 "Andere Ästhetik". Im Rahmen eines Praxis-orientierten Seminars wurden die Themen von Studierenden der Germanistik und der Kunstgeschichte erarbeitet. Die Konzeption der Ausstellung wurde von den Projektmitarbeiterinnen Katharina Bauer und Julia Fischer entwickelt und in Zusammenarbeit mit einer Web-Design-Agentur umgesetzt. Die Malaktion mit Seler (Loc) ist auf dem Twitter- und dem Facebook-Account des SFB dokumentiert: @AndereAesthetik