Universitätsbund e. V.

12.07.2022

Über Ungewissheiten und Solidarität: Im Gespräch mit der ukrainischen Wissenschaftlerin Dr. Taisiia Ratushna

Seit Juni 2022 erhält Dr. Taisiia Ratushna ein Unibund-Stipendium für geflüchtete Forschende aus der Ukraine. Im Interview berichtet sie von ihrer Forschung, den Herausforderungen, die ihre Flucht mit sich brachte und die Solidarität, die sie erfuhr.

Dr. Taisiia Ratushna zum Gespräch in der Geschäftsstelle des Universitätsbunds in der Alten Botanik.

Wo waren Sie tätig bevor Sie nach Tübingen kamen?
An der Nationalen Universität Saporischschja, in der Soziologie. Als Juniorprofessorin habe ich dort gelehrt, geforscht, Praktika für Studierende der Soziologie organisiert und universitätsweite Studien zur Qualität der Lehre durchgeführt. Zudem beriet ich NGOs hinsichtlich der Durchführung soziologischer Studien.

Wo liegen Ihre Forschungsschwerpunkte?
Ich befasse mich mit dem Konsum von Medien und dem Umgang mit Informationen aus dem Internet. Aktuell untersuche ich, wie Lehrkräfte die Medienkompetenzen der Lernenden stärken, wie sie selbst Medieninhalte überprüfen und mit Fake News umgehen. Da sich das Internet ausschließlich selbst reguliert, es also nahezu unkontrollierbar ist, können Fake News in kürzester Zeit verbreitet werden und schädlichen Einfluss auf die öffentliche Meinung nehmen. In der Ukraine konnte man deutlich beobachten, wie Fake News und russische Propaganda genutzt wurde, um die Meinung der Zivilbevölkerung zu manipulieren.

Sie mussten Ihr Heimatland sehr kurzfristig verlassen. Zu welchem Zeitpunkt haben Sie sich entschieden, nach Deutschland zu kommen?
Schon in den ersten Kriegstagen besetzten russische Truppen einen Teil meiner Heimatregion Saporischschja. Für meinen Mann und mich stand fest, dass die Sicherheit unserer Tochter an erster Stelle steht – und so beschloss ich, die Ukraine gemeinsam mit ihr zu verlassen. Ich wusste nicht wohin ich gehen sollte. Letzten Endes gingen wir nach Deutschland, da mein Mann dort entfernte Verwandte hat.

Mit welchen Herausforderungen wurden Sie konfrontiert?
Neben den körperlichen Strapazen war die völlige Ungewissheit die größte Herausforderung. Die Erkenntnis, dass ich wenig bis nichts in meinem Leben kontrollieren kann. Selbst in Berlin, als wir in endlich in Sicherheit waren und eine Pause einlegen konnten, blieb das Gefühl der Hilflosigkeit. Die Nachrichten, die wir aus der Ukraine erhielten, verstärkten dieses Gefühl. Durch Zufall stieß ich auf die Ausschreibung zur Unterstützung geflüchteter Forschender aus der Ukraine an der Universität Tübingen. Sofort füllte ich das Antragsformular aus – und so kam ich nach Tübingen.

Wie würden Sie die derzeitige Situation in der Ukraine beschreiben?
Es ist schwierig, das in Worte zu fassen. Zum einen, da ich nicht vor Ort bin, zum anderen, weil es noch immer schwierig ist, zu begreifen, dass sich mein Leben so dramatisch verändert hat und meine Verwandtschaft und befreundete Personen in ständiger Gefahr sind.  Ein Teil meiner Region, der Region Saporischschja, ist noch immer besetzt. Mehrmals am Tag werden Luftangriffe angekündigt und die umliegenden Ortschaften mit Artilleriefeuer beschossen. Die Hauptstadt Saporischschja hat zwar Tausende Geflüchtete aus Mariupol, Melitopol, Berdjansk und anderen Städten aufgenommen, doch sicher ist es dort nicht. Wir glauben jedoch an unsere Streitkräfte und hoffen auf die Unterstützung unserer internationalen Partner, damit dieser schreckliche und ungerechte Krieg beendet wird.hn

Welche Art von Unterstützung haben Sie in Deutschland und von der Universität Tübingen erhalten?
Zunächst erhielten meine Tochter und ich die Möglichkeit, uns sicher zu fühlen. Zudem erhielten wir Unterstützung von Sozialämtern und Migrationsbehörden. Ich möchte jedoch vor allem die Unterstützung der NGOs, der ehrenamtlichen und karitativen Organisationen und der Einzelpersonen hervorheben, die die Geflüchteten in den ersten Wochen unterstützten, noch bevor die Ämter einsprangen. Dieses Maß an Solidarität und Hilfe ist beeindruckend und ich kann der deutschen Bevölkerung für diese Unterstützung und Fürsorge nur danken. Auch die Solidarität der wissenschaftlichen Gemeinschaft ist beeindruckend. Die Universität Tübingen hat mir die Möglichkeit gegeben, an einen Arbeitsplatz zurückzukehren und mein Forschungsprojekt fortzusetzen. Das ist sowohl aus finanzieller als auch aus psychologischer Sicht sehr wichtig. Die Forschung an der Universität Tübingen hat mir das Gefühl gegeben, wieder in den Alltag zurückkehren und mir neue Ziele setzen zu können.

Ich möchte mich sehr herzlich beim Universitätsbund, der Unibund-Gemeinschaft und den Alumni der Universität Tübingen bedanken. Ihr Engagement hat mir die Möglichkeit gegeben haben, weiterzumachen. Ich danke Ihnen.

Darüber hinaus möchte ich der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät und dem Fachbereich Soziologie, insbesondere Professorin Dr. Pia S. Schober, sowie Dr. Iryna Shalaginova, Tetyana Tonkoshkur, Amrei Nensel, Svitlana Benz, Kirsten Sonnenschein und vielen anderen für ihre Unterstützung und Hilfe danken.


Interview Rebecca Hahn

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