Die Rede des Jahres 2014
Navid Kermani: Gedenkrede zum deutschen Grundgesetz
Die Rede des Jahres 2014 hat Navid Kermani gehalten. Das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen zeichnet den Schriftsteller und Orientalisten für seine Rede zum 65. Jubiläum des Grundgesetzes am 23. Mai im Deutschen Bundestag aus. In seiner Rede verbindet Kermani eine geistreiche Würdigung des Grundgesetzes mit einer deutlichen Kritik an der deutschen Flüchtlingspolitik. Sie endet mit einem bewegenden Dank an Deutschland. Navid Kermani gelingt eine intellektuell brillante, literarisch feinsinnige und emotional überzeugende Rede, die die Grenzen konventioneller Gedenkrhetorik sprengt.
Kermani wählt einen ungewöhnlichen Zugang. Er liest das Grundgesetz nicht als Rechtsdokument, sondern als ein Stück Literatur, als einen „bemerkenswert schönen Text“. So stellt er fest, dass die ersten beiden Sätze des Grundgesetzes ein Paradox bilden: „Denn wäre die Würde des Menschen unantastbar, wie es im ersten Satz heißt, müsste der Staat sie nicht achten und schon gar nicht schützen, wie es der zweite Satz verlangt.“ Das ist eine intellektuell brillante Beobachtung, an die er eine genaue Lektüre des Grundgesetzes anschließt. Kermani bewundert jedoch nicht nur die literarische Qualität des Grundgesetzes, sondern hebt es als hart erkämpften, seiner Zeit weit vorausgreifenden, visionären Entwurf hervor.
Bei dieser Würdigung, die für den Anlass ohne Zweifel mehr als ausreichend gewesen wäre, bleibt Kermani nicht stehen. Er schlägt vielmehr den Bogen zur Gegenwart, indem er die Gründungsväter des Grundgesetzes, die Mitglieder des Parlamentarischen Rates, von einer imaginären „himmlischen Ehrentribüne“ aus auf die Gedenkstunde blicken lässt. Fast unmerklich verwandelt Kermani das Lob der Gründungsväter in eine Kritik an ihren Enkeln. Er mahnt die vor ihm sitzenden Politiker, „ihr Handeln nicht nach Umfragen, sondern nach ihren Überzeugungen“ auszurichten. Und er formuliert eine scharfe Kritik an der „Entstellung“ des Asylrechts: Im Jahr 1993 habe Deutschland das Grundrecht auf Asyl „praktisch abgeschafft“ und dies hinter „einer monströsen Verordnung aus 275 Wörtern, die wüst aufeinandergestapelt“ wurden, versteckt. Kermani fordert die Abgeordneten auf, im Angesicht drängender Probleme wie Flucht, Vertreibung, Immigration und religiöser Intoleranz, den Artikel 16 wieder in ein Grundrecht auf Asyl zurückzuverwandeln.
Die Vorstellung der himmlischen Ehrentribüne lässt Kermani aber auch versöhnliche Töne anstimmen, indem er den leisen, bescheidenen Verfassungspatriotismus der Deutschen hervorhebt und ihn wieder in der Form des Paradoxes beschreibt: „Dieser Staat hat Würde durch einen Akt der Demut erlangt.“ Diese Sentenz bereitet eine eindringliche und bewegende Schlusspassage vor, in der sich Kermani als Sohn von iranischen Einwanderern im Namen seiner Familie, aber auch vieler anderer Einwanderer symbolisch vor Deutschland verneigt mit den Worten „Danke, Deutschland“. Dem Redner gelingt auf diese Weise ein rhetorisches Glanzstück: Er lässt sich nicht auf die Rolle des Intellektuellen oder diejenige des Schriftstellers oder diejenige des Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft reduzieren, sondern bringt alle Facetten seiner Person gleichgewichtig und überzeugend in die Rede ein. Durch die besonnene und gelehrte Vortragsweise entwirft er gleichzeitig ein Gegenbild zu manchen ansonsten an diesem Pult gehaltenen Reden.
Kermanis Rede überzeugt durch eine abwägende und anregende Verbindung der klassischen Aufgaben von Lob und Tadel. Sein Ton ist leise, aber bestimmt, seine Sprache anschaulich, wohlkomponiert und eindringlich, seine Argumentation bestechend und seine persönliche Geste glaubwürdig und bewegend. Kermani zeigt sich als ein gewandter und gebildeter, sympathischer und anrührender Redner, der das Gedenken ans Grundgesetz dafür nutzt, dem Parlament auf eine besonnene und beharrliche Weise den Spiegel vorzuhalten. Mit seiner Rede beleuchtet Kermani die Grundlagen unseres Selbstverständnisses und preist das Grundgesetz als größte Errungenschaft unserer Republik.
Jury: Pia Engel, Dr. Gregor Kalivoda, Prof. Dr. Joachim Knape, Dr. Olaf Kramer, Severina Laubinger, Prof. Dr. Dietmar Till, Dr. Anne Ulrich, Peter Weit, Dr. Thomas Zinsmaier.