Seminar für Allgemeine Rhetorik

Die Rede des Jahres 2000

Daniel Cohn-Bendit: Quo vadis Europa

Das Institut für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen hat die Rede Quo vadis Europa? des Grünen Europa-Abgeordneten Daniel Cohn-Bendit zur Rede des Jahres 2000 gewählt.

Mit beredten Worten entwickelt Cohn-Bendit die Vision einer wahrhaft europäischen Zukunft, sein Ziel ist der Wandel der EU von einem Verwaltungsapparat zu einer wahren politischen und menschlichen Union. Der Redner argumentiert mit Überzeugung und Engagement, wohlbegründet und mit hervorragender Kenntnis der europäischen Kulturgeschichte. Er versucht nicht, es allen recht zu machen, sondern besitzt den Mut, gegen die fragwürdigen Gewohnheiten der Politik neue Wege nach Europa zu suchen eine seltene Tugend in der politischen Beredsamkeit unserer Zeit.

Europa wird Cohn-Bendit zu einer der letzten Utopien, für die es sich lohnt zu kämpfen. Ohne Tabus stellt er Fragen nach der europäischen Identität, nach den Grenzen der europäischen Erweiterung und entwickelt die Vision einer europäischen Magna Charta. Cohn-Bendit weiß, daß Europa sich ändern muß, wenn es sich weiterentwickeln soll, und deutlicher als andere wagt er es, sich Gedanken darüber zu machen, wie die europäische Zukunft in verfassungsrechtlicher und menschlicher Hinsicht aussehen kann. Dabei schreckt er nicht vor dem Tabu zurück, auch über die Grenzen der EU-Erweiterung nachzudenken. Er legitimiert das politische Europa aus kulturhistorischen und geographischen Realitäten, denn er weiß, ohne einheitliche Identität kann es kein einiges Europa geben und grenzenlose Osterweiterungen nehmen der europäischen Identität die Basis. Cohn-Bendit erliegt dabei aber nicht der Versuchung, europäischen Zentralismus zu propagieren: Europäische Identität heißt nicht Verzicht auf nationale Identitäten. Zum zentralen Punkt des europäischen Selbstbewußtseins, so wie Cohn-Bendit es sich vorstellt, gehört nicht Chauvinismus, sondern Verfassungspatriotismus.

Die am 3. November dieses Jahres anläßlich der 18. Lesung der Van-der-Leeuw-Stiftung in der Martini-Kirche in Groningen (Niederlande) gehaltene Rede beeindruckt durch die Klarheit ihrer Gedanken. Cohn-Bendit kann für seine Argumentation auf ein umfangreiches kulturhistorisches Wissen zurückgreifen. Kenntnisreich erläutert er Stationen europäischer Identitätsbildung und läßt sich dabei nie zur Formulierung bloßer Selbstverständlichkeiten hinreißen, sein Blick auf die Geschichte ist informativ und innovativ zugleich. Cohn-Bendit beherrscht die vielfältige Kunst des rhetorischen Arguments, er argumentiert mit Beispielen und Vergleichen und setzt bei seiner Rede auf Vernunfts- und Gefühlsgründe gleichermaßen. Sprachlich überzeugt die Rede, indem sie beständig das Publikum zum Bezugspunkt aller Formulierungen macht; bilderreich und klar stellt Cohn-Bendit seine Europa-Vision vor. Dabei verfügt der Redner über ein großes Repertoire an Ausdrucksmöglichkeiten, seine Skala reicht von feiner Ironie bis zum pathetischen Appell. So stehen Redner und Rede als Exempel für die innovative und aufklärerische Kraft einer wahrhaft europäischen Beredsamkeit.

Jury: Prof. Dr. Joachim Knape, Boris Kositzke, Olaf Kramer, Prof. Dr. Gert Ueding und Peter Weit.

Text der Rede